: „Die wollen nur spielen“
von BARBARA BOLLWAHN (Text) und WOLFGANG BORRS (Fotos)
Die Botschaft ist eindeutig. „Über Schuld entscheidet nicht die Presse“, steht auf einer meterlangen Papierrolle. Auf einem Transparent auf der Zuschauertribüne: „Wo die Presse (be)richtet, stirbt die Wahrheit.“ Und: „Team, Sponsoren und Fans, gemeinsam schaffen wir das!! Einmal Eisbär, immer Eisbär.“
An diesem Freitagabend in der Eissporthalle im Sportforum Berlin-Hohenschönhausen haben die Eishockeyspieler des EHC Eisbären zwei Gegner: die Hamburg Freezers und die anwesenden Pressevertreter. Aus dem Testspiel in Vorbereitung auf die am kommenden Freitag beginnende Saison wird eine Abrechnung. Seit Tagen berichten vorwiegend Boulevardzeitungen seitenweise über die beiden Profispieler Yvon Corriveau und Bradley Bergen. Doch nicht über die spielerischen Qualitäten des Stürmers und des Verteidigers, sondern über einen Vorwurf, der das Ansehen des Clubs schwer schädigen könnte. Sie sollen nach einem Spiel in Schweden eine 20-jährige Frau vergewaltigt haben. Seitdem verhalten sich viele Fans, als wären sie selbst beschuldigt.
Eisbären-Fans sind nicht irgendwelche Fans. Der immer wieder zitierte Satz „Einmal Eisbär, immer Eisbär“ ist bei ihnen keine Phrase, das sind Worte fürs Leben. Der Vorwurf einer Vergewaltigung ist für sie so unvorstellbar wie ein in vierter Ehe verheirateter Kanzler, der plötzlich schwul sein soll. Der EHC Eisbären Berlin ist einer der wenigen Sportclubs der DDR, die sich nach der Wende etablieren konnten. Wäre der oberste Stasi-Chef der DDR, Erich Mielke, nicht so vernarrt gewesen in das Spiel auf dem Eis, gäbe es die Eisbären vermutlich gar nicht. Mielke hatte sich gegen einen DDR-Sportbeschluss aus dem Jahre 1969 zur Wehr gesetzt, laut dem nur medaillenträchtige und olympische Sportarten staatlich gefördert werden sollten. Zu denen gehörte Eishockey nicht. So startete 1970 das Rudiment einer Liga: Dynamo Berlin. Zusammen mit Dynamo Weißwasser bildete Dynamo bis 1989 die kleinste Liga der Welt und wurde 15-mal DDR-Meister.
1990 dann wurde der EHC Dynamo Berlin e. V. gegründet und wenige Jahre später den Sponsoren zuliebe in EHC Eisbären umbenannt. Der Imagewechsel hat geklappt: Seit 1999 gehört der Club der Anschutz Entertainment Group des US-Milliardärs Philip F. Anschutz, der neben amerikanischen Football-, Eishockey- und Fußballteams auch mehrere europäische Eishockeyclubs sein Eigen nennt. Die Eisbären zählen seitdem zu den Reichen der Liga.
Doch auch an diesem Freitagabend tragen viele Fans ihre „Dynamo“-T-Shirts und schreien „Dynamo, Dynamo!“ oder „Ost-Ost-Ostberlin!“ Aber die weitaus meisten tragen rotweißblaue Schals mit dem Eisbären-Kopf und Trikots mit der Nummer ihres Lieblingsspielers: weit geschnittene, lange Shirts, die von oben bis unten mit Werbung bedruckt sind und jeden, ob groß oder klein, dick oder dünn, unförmig aussehen lassen. In der Minderheit sind die Fans ohne Eisbären-Outfit. So wie die beiden Frauen, die eine in spitzen weißen Stiefeln, Jacke und Hose aus Jeans und weißem Cord, die andere in dicksohligen weißen Schuhen und rosafarbener, tief dekolletierter Jacke. Es sind Mutter und Tochter.
Die Tochter ist 17, hat rote Strähnen im Haar, trägt einen glitzernden Stein in der Nase, ein Piercing auf der Zunge, an einem Schneidezahn blinkt ein goldenes Schmuckstück. Wie die meisten Fans will sie ihren Namen nicht sagen. Aber trotz der Versuche von Stadionordnern, Gespräche mit der Presse zu unterbinden, erzählt sie. In der Pause draußen vor der Halle, wo es Bier und Bratwurst gibt und ein DJ-Pult, das ein Plakat mit einem weit aufgerissenen Eisbärenmaul schmückt, auf dem steht: „Die beißen nicht, die wollen nur spielen“.
Seit fünf Jahren ist die angehende zahnmedizinische Fachangestellte Fan der Eisbären. Nachdem eine Nachbarin sie zu einem Spiel mitgenommen hatte, war sie sofort von der Stimmung im Stadion, dem Kampf auf dem Eis, der Lautstärke der Trommeln, dem Zusammenhalt unter den Fans angetan. Seitdem gilt bei ihr: „Die Eisbären sind mein Leben.“ Stolz erzählt sie, dass sie problemlos in der Geschäftsstelle des Clubs die Trainingszeiten erfahre und von einem Spieler die Privatnummer habe. Von welchem, verrät sie nicht. „Ich will ihm nicht schaden.“ Mehrfach betont sie, dass es „ein rein freundschaftliches Verhältnis“ sei. Verheiratete Spieler seien ohnehin tabu.
Vor zwei Jahren hat die Begeisterung dann auch ihre Mutter, die 38-jährige Sachbearbeiterin einer Krankenversicherung, gepackt. Auf ihrer Jeansjacke trägt sie Autogramme von zwei Spielern. Ihr Schwarm ist Bradley Bergen, jener Spieler, der jetzt hinter schwedischen Gardinen sitzt. Seitdem sie sich von ihrem Mann getrennt hat, dem zuliebe sie zu Fußballspielen gegangen ist, findet sie den Puck spannender als den Ball. „Eishockey ist schöner“, sagt sie, „vielleicht auch, weil es härter ist.“
Eishockey gilt als der schnellste und härteste Mannschaftssport der Welt. Heißt das, dass es auch außerhalb der Eisfläche schnell und hart zugeht? „Die ganze Mannschaft glaubt das nicht mit der Vergewaltigung“, sagt die Tochter. „Vielleicht haben sie mit ihr geschlafen, aber Vergewaltigung – nein, niemals.“ Als Beweis für ihre These dient ihr eine Gegenfrage. „Warum hatte die Frau keine Hämatome, und warum hat niemand ihre Schreie gehört?“ Mit Verweis auf die vielen Auswärtsspiele fügt ihre Mutter hinzu: „Die Spieler sind auch nur Männer, und viele Frauen legen es drauf an.“ Sie glaubt „an ein linkes Ding“, an eine „Mitschuld“ der Schwedin.
Sicher, sagt die Tochter, es sei relativ leicht, etwas mit einem Spieler anzufangen. Doch die wüssten schon, vor welchen Fans sie sich in Acht zu nehmen hätten: „Vor den jungen Mädchen, die sich was erhoffen.“ Die, die den Spielern Briefe schreiben, die versuchen, ihre Privatadresse herauszubekommen. Was diese Fans sich erhoffen? „Na, schwanger zu werden“, antwortet die 17-Jährige prompt. Und erzählt von der „Stadionnutte“: einer 27-Jährigen, die seit Jahren den Eisbären und Spielern anderer Clubs nachstelle. Was sie bei den Eisbären nicht geschafft hat, habe sie jetzt mit einem Profispieler einer Hamburger Mannschaft erreicht: schwanger zu werden. Doch von solch „richtig krassen Fans“ gebe es nur sechs oder sieben.
Ein Eishockeyspieler, der bis vor wenigen Jahren bei den Junioren der Eisbären gespielt hat und einige der Profis kennt, erzählt in einer Kneipe gegenüber der Eissporthalle von dem „angenehmen Nebeneffekt“ des Eishockeysports. „Man hat einen guten Stand und landet schnell mit einem Mädchen im Bett. Oder zwei Spieler mit einem Mädchen.“ Seinen Namen will er nicht nennen, auch nicht, was er jetzt studiert. Zu groß ist die Angst des 22-Jährigen, als Nestbeschmutzer zu gelten.
In den letzten Jahren hat der ehemalige Spieler Veränderungen im Verhältnis der weiblichen Fans zu den Spielern bemerkt. Hätten Mädchen früher nur nach Autogrammen angestanden, gehe es längst „viel anzüglicher und eindeutiger“ zu. „Viele Mädchen wollen mit den Spielern ins Bett.“ Und: „Viele Mädchen rühmen sich damit, wenn sie es geschafft haben.“ Eishockeyspieler, sagt er, seien schon „härtere Zeitgenossen“. Doch eine Vergewaltigung? Nein, das kann er sich nicht vorstellen. „Das sind beide Familienväter, die haben als Profispieler viel zu verlieren.“
Glaubt man dem ehemaligen Juniorspieler, geht es mitunter nach Spielen derber als auf dem Eis zu. Ein Profispieler erzählte ihm von einem Saisonabschluss in Sachsen, der ihn an einen schlechten Pornofilm erinnere. „Da wurde eine Hochsprungmatte in die Kabine gelegt, und die Mädchen, die vor der Tür Schlange standen, wurden nach und nach in kleinen Gruppen reingelassen.“ Gangbang heiße diese Art von Gruppensex und sei durchaus üblich beim Eishockey.
Bevor sich der ehemalige Juniorspieler verabschiedet, erzählt er noch eine Geschichte. Vor einigen Jahren hätten Profispieler der Eisbären für einen behinderten Fan Geld gesammelt, damit er die Dienste einer Prostituierten in Anspruch nehmen konnte. „Eine derbe Nettigkeit“ nennt er das und fügt lachend hinzu: „Oder Charity der besonderen Art“.
Nur die beiden inhaftierten Eisbären-Spieler und die Schwedin wissen, was wirklich vorgefallen ist an dem Abend im Mannschaftshotel. Trotzdem meinen viele Fans sagen zu können, was gewesen ist, beziehungsweise was nicht. So wie die 25-jährige Studentin, die in einer Spielpause zusammen mit ihrem Freund ein Bier trinkt. „In Deutschland wäre das keine Vergewaltigung“, ist sie überzeugt. „Mir tun nur die Frauen der Spieler Leid.“ Auch ihr Freund, ein 26-jähriger Stukkateur, hat eine Erklärung. „Ich nehme mal an, die Schwedin war besoffen und wollte mitmachen.“ Ein 45-jähriger arbeitsloser Fernfahrer, der als junger Mann bei Dynamo Eisschnelllauf trainiert hat, schüttelt den Kopf. „Pillepalle! Da ist nichts dran.“ Es gebe viele Spielerinnen, die den Sportlern hinterherrennen. Aber eine Vergewaltigung? „Vielleicht war es verschmähte Liebe. Sie ist nicht rangekommen und hat deshalb Anzeige erstattet.“ Und dann sagt er etwas, was vielleicht viele Fans glauben und was gut in ihre Ost-West-Legenden-Bildung passt. „Die ganze Geschichte würde weniger aufgebauscht werden, wenn wir nicht ein Ostclub wären.“
Das Testspiel verlieren die Eisbären 3:4.