: In Berlin müssen tausende Kinder leiden
Die Polizei erfasste 2003 bundesweit knapp 3.000 Fälle von Kindesmisshandlung. Jeder achte wurde in Berlin registriert – so viele wie in keiner anderen Stadt. Plakate sollen die Leute jetzt dazu bringen, hinzusehen oder -zuhören
Berlin hält eine traurige Spitzenposition: In keiner deutschen Stadt werden mehr Kindesmisshandlungen gemeldet, teilte das Landeskriminalamt am Donnerstag mit. Von 2.928 im Jahr 2003 bundesweit bekannten Fällen wurden 361 in Berlin erfasst. Damit wurde jede achte Misshandlung an der Spree registriert. Keine andere deutsche Stadt erreiche dreistellige Zahlen. Werden Jugendliche, Patienten und andere Schutzbefohlene hinzugezählt, steige die Berliner Zahl der Misshandlungen auf 494, sagte Kriminaloberrat Michael Havemann.
Im ersten Halbjahr 2004 wurden nach Polizeiangaben in Berlin rund ein Drittel mehr Kindesmisshandlungen gemeldet als im Vorjahreszeitraum. Dass die Zahl in diesem Jahr höher sei, führte Havemann auch darauf zurück, dass durch spektakuläre Fälle der jüngsten Zeit die Bürger in der Hauptstadt besonders sensibel seien und über solche Fälle berichteten.
So macht derzeit zum Beispiel der Fall Dennis aus Cottbus Schlagzeilen, dessen Eltern verdächtigt werden, ihr Kind vernachlässigt und misshandelt zu haben, bis es an Entkräftung starb. Danach versteckten sie die Leiche zweieinhalb Jahre in ihrer Tiefkühltruhe. Einer Mutter in Fürstenwalde im Land Brandenburg wurden im Juli vorübergehend ihre beiden Söhne weggenommen, nachdem die Jungen in ihren verschimmelten Exkrementen im Bett gefunden worden waren.
Die Bürger griffen nach solchen Berichten öfter zum Telefon, sagte Havemann. Die Polizei geht dennoch von einer hohen Dunkelziffer aus: Nur rund jeder 20. Fall werde gemeldet.
Auch die Fürsorge- und Erziehungspflicht wird an der Spree besonders häufig verletzt. 201-mal stießen Polizisten im vergangenen Jahr auf vernachlässigte Kinder. Die Polizei ruft die Bürger jetzt mit Plakaten auf, verdächtige Fälle zu melden. Die am Donnerstag im Landeskriminalamt vorgestellten Poster sollen in den Sprachen Deutsch, Türkisch und Russisch in allen Polizeiwachen, Melde- und Bürgerämtern hängen. „Es wird immer noch viel zu oft weggeschaut“, sagte der Initiator der Kampagne.
Eines der nun vorgestellten Plakatmotive zeigt einen in Stein gehauenen Schutzengel mit einer Mäusepuppe im Arm. Dazu gehört der Text: „Viele Kinder haben keinen Schutzengel. Täglich werden Kinder misshandelt.“ Auf einem anderen Plakat sind drei Kleinkinder zu sehen, die in einer vollkommen verwahrlosten Wohnung ängstlich auf einem Tisch hocken.
Nach Havemanns Worten sind Fälle wie diese nicht ungewöhnlich. Die Poster fordern die Berliner dazu auf, die Polizei anzurufen, wenn sie den Verdacht haben, dass Kinder misshandelt werden. Schreie wiesen auf gepeinigte Kinder hin und strenge Gerüche auf Verwahrlosung, hieß es. „Ihr Anruf kann entscheidend für das Leben des Kindes sein“, so der Wortlaut auf den Plakaten. Ein Sprecher fügt hinzu, was eigentlich selbstverständlich sein sollte: „Das ist keine Petzerei.“ DDP, DPA