Im Schatten der Entdeckten

Seine Theater spielten oft die Stücke und Inszenierungen von morgen: In München fällt es Frank Baumbauer jedoch schwer, die Rolle des erfolgreichsten Intendanten seiner Zeit fortzusetzen

Die Theaterlandschaft ist voll mit seinen Eleven, die ähnlich intensiv versuchen, das Theater zu öffnen

VON SABINE LEUCHT

Der Mann mit der Vorliebe für Strickwaren und einen wärmenden Schnäuzer hat eine Stimme aus Samt. Wenn er ins Erzählen kommt, hört man nur allzu gerne zu. Wer ihn jedoch besser kennt, spürt sicher noch einen Rest des Drucks, der in den letzten Monaten auf Frank Baumbauer gelastet hat: Eine unentschiedene Spielzeit in den Münchner Kammerspielen geht zu Ende, die der 58-Jährige seit Herbst 2001 leitet. Für die Freunde kompromissloser Experimente war sie zu brav, für die gepflegte Unterhaltungsfraktion waren bereits die Themen zu sperrig: Heiner Müller, Paul Claudel, Wasilij Sigarew – eine große Koalition der Düsternis.

Düster reagierten denn auch Publikum und Kritik: Abonnements wurden gekündigt, Teile der Presse begannen den Intendanten, „wie die Sau durchs Dorf zu jagen“ (O-Ton Baumbauer), bis selbst die ansonsten wenig theaterkundige Bunte seinen Ruhm „verblassen“ sah. Dieser sprichwörtliche Ruhm gründet sich nicht nur auf der Entdeckung von Autoren wie Elfriede Jelinek und Rainald Goetz, von Regisseuren wie Christoph Marthaler und Luk Perceval und überhaupt unglaublich vielen von denen, die heute im deutschsprachigen Theater als Intendanten für Aufbrüche sorgen: Zum Beispiel Matthias Lilienthal (Hebbel am Ufer in Berlin), Wilfried Schulz (Staatsschauspiel Hannover), Albrecht Puhlmann (Staatsoper Hannover) oder Barbara Mundel, noch Intendantin in Luzern, die nun für zirka zwei Jahre in den Kammerspielen die Dramaturgie auf Linie bringt, bevor sie in Freiburg Amélie Niermeyer beerbt.

Doch der begnadete Leutefinder Baumbauer war zugleich auch der erfolgreichste Theaterleiter der Neunzigerjahre: Das Hamburger Schauspielhaus wurde unter ihm vier Mal zum Theater des Jahres gewählt. In Kritikerumfragen wohlbemerkt. Aber die Jahre an der Elbe waren auch beispielhaft für den gelungenen Spagat zwischen Anspruch und Kasse. Die „Schmuddelbude“, wie Baumbauer sein ehemaliges Haus liebevoll nennt, goutierten die Hamburger ebenso wie das „Schnarchtheater“ Thalia seines Freundes Jürgen Flimm. Das so leicht zu brüskierende Volk der Kaufleute lernte über die Jahre, Marthalers traurigkomische Schlafwandler zu lieben, aber auch die hintergründigen Kammerspiele eines Jossi Wieler, die Liederabende Franz Wittenbrinks oder die frühen Arbeiten der Pop-Regisseure Falk Richter und Stefan Pucher.

Um wie viel leichter sollten die Münchner zu gewinnen sein, für die Theater geradezu ein Lebensmittel ist, wie der gebürtige Münchner Baumbauer selbst in einem früheren Interview bemerkte. Aber der Münchner hält nicht nur bei seiner Weißwurst den Daumen auf’s Rezept. „Dieser Besitzanspruch!“, stöhnt Baumbauer, dessen Intendanz 2001 in einem Provisorium begann. Drei kleine, sterile Spielstätten im Labyrinth des heutigen Probengebäudes, dazu die abgelegene Jutierhalle für das größere Format. „Da konnten wir rumschmuddeln, und die Zuschauer haben gedacht, wenn die erst in den Jugendstilpalazzo zurückkehren, werden sie schon wieder Theater machen wie vorher.“ Von wegen!

Im März 2003 wurde das Schauspielhaus nach dreijähriger Renovierung wieder eröffnet. Und mit Luk Percevals „Othello“-Inszenierung kam das Erwachen: Shakespeares Mohr war schneeweiß, und die Fäkalsprache des Autors Feridun Zaimoglu ließ eine anrührende Studie über die Einsamkeit an der Oberfläche wie einen plumpen Abonnentenschocker wirken. „Wir sitzen in unserem Wohnzimmer, wir schauen durch dasselbe alte Bronzeportal, aber die haben uns das Bild aus dem Rahmen geschnitten“, fasst der Intendant die mutmaßlichen Gedanken enttäuschter Zuschauer zusammen.

Für das „Bild“ im alten Stil war fast ein Vierteljahrhundert lang Dieter Dorn zuständig, der neben bayerisch-anarchischem Urgestein wie Achternbusch, Kroetz, den Biermösl Blosn und Dr. med. Ringsgwandl durch die Bank ungekürztes Sprechtheater pflegte: Eigene Shakespeareinszenierungen, viel gehobenes Boulevard und ein viel gerühmtes Ensemble – mit diesem Erfolgsrezept bricht der heute 68-Jährige wenige hundert Meter weiter noch immer alle Auslastungsrekorde: als Leiter des Bayerischen Staatsschauspiels, wo Baumbauer selbst 1983 seine Intendantensporen verdiente – und schon nach drei Jahren von der CSU geschasst wurde.

Voraussichtlich bis 2009 wird der Wettstreit der ungleichen Giganten in München noch weitergehen. Dorns Vertrag hat, wie es scheint, sowieso Ewigkeitsstatus, und auch Baumbauers Verlängerung ist seit dem 28. Juli durch mit den Stimmen aller Parteien. „Erstaunlicherweise“, wie er meint. Doch immerhin konnten die Kammerspiele mit den letzten Premieren einiges an Boden gutmachen. Der junge Laurent Chétouane hat aus Lothar Trolles Mörderdrama „Hermes in der Stadt“ eine formstrenge Zumutung für die Nerven gemacht. Und Lars-Ole Walburgs schneeweißes „Antigone“-Destillat ist derzeit auf dem besten Wege, Kult zu werden.

„Ja“, sagt da der Mann mit dem Aussehen eines Verwaltungsbeamten, „aber Antigone war auch ein unglaubliches Déjà-vue: Du hast ein kammerspielartiges Stück, einen komplizierten Text, eine intelligente Regie und Dramaturgie und wunderbare Schauspieler. Und dann die Frage: Genügt das? Oder ist es doch ein Rollback zum Dorn-Theater?“

Damit umreißt Baumbauer recht genau das eigentliche Dilemma seines Hauses: Wo seine Truppe stark ist, ist sie (noch) ganz und gar nicht unverwechselbar. Das liegt teilweise daran, dass die deutschsprachige Theaterlandschaft mit seinen Eleven gepflastert ist, die ähnliche Theatersprachen und Autoren favorisieren und ähnlich intensiv wie er selbst die Öffnung des Theaters pflegen: Auseinandersetzung, Transparenz, zusammen streiten und feiern – „das ist fast das Wichtigste“, sagt der passionierte Kommunikator Baumbauer.

Die vorläufige Verwechselbarkeit seines Hauses aber rührt sicher auch daher, dass er der Stadt erst mal ein bisschen Nachhilfe verordnet hat. In der kommenden Spielzeit, die unter dem Motto „Bekenntnisse“ steht, wird Michael Thalheimer zum ersten Mal in München inszenieren, ebenso der rasende Kapitalismuskritiker René Pollesch, die anderen Best-ofs des deutschen Theaters waren bereits da.

Die bisherigen Versuche mit jungen Regisseuren fielen dagegen eher kläglich aus. Mit Ausnahme vielleicht von Monika Gintersdorfer fehlte den meisten entweder die Originalität oder der Atem, sie auch heil bis ans Ende einer Inszenierung zu bringen. „Da haben wir“, gibt Baumbauer zu, „sicher auch was zerstört, weil ich nicht damit gerechnet habe, dass der Begriff ‚Münchner Kammerspiele‘ schon viele einen Zentimeter kleiner macht. Da sind Leute zusammengeknüllt worden wie Packpapier.“

Der Sohn der bekannten Theateragentin Erna Baumbauer ist eine Vaterfigur, der sich auch nicht zu schade ist, einer Frankfurter Kritikerin einen bösen Brief zu schreiben, weil sie den Schauspielern persönlich kam und offen zu Subventionskürzungen riet. „Da musste ich einfach reagieren.“ Doch mit dem Schutz ist es bekanntlich nicht mehr weit her, wenn der schützende Vater eine Berühmtheit ist. Das war mal anders, Ende der Achtziger in Basel, „der Keimzelle für vieles, was heute im Theater schön und wichtig ist. Castorf war damals noch in Karl-Marx-Stadt, Marthaler hat in einer Züricher Apotheke zwölf Stunden Eric Satie gespielt. Die sind da zusammengekommen hinter dem Schwarzwald, den Vogesen und dem Schweizer Jura. Da konnte man Dinge ausprobieren, die auch schlecht wurden. Dann hat sie aber niemand gesehen. Und wenn es gut war, dann war’s wie ein Feuerwerk, das sieht man von weit her leuchten.“

Heute aber tut alle Welt so, als müsse ein Baumbauer-Haus rund ums Jahr vor Helligkeit strahlen. Da übersieht man denn auch leicht, dass dem Münchner Team mit „Othello“, mit Lars-Ole Walburgs „Danton“-Schlammschlacht oder mit Johan Simons Aktionsverweigerung „Anatomie Titus“ grandiose Arbeiten gelungen sind – gerade in ihrer Streitbarkeit. Außerdem wurde Baumbauer vom Start weg zum Berliner Theatertreffen eingeladen, was Dorn seit 1995 nicht mehr gelungen ist. Wenn auch nicht mit originären „Neuentdeckungen“. Baumbauer, der selbst nicht Regie führt, versteht sich ohnehin eher als Verkuppler.

Seit 16 Jahren geht es ihm „um die – hoffentlich raffinierte – Zuordnung zwischen Autoren, Regisseuren und Schauspielern, aus dem Gefühl heraus, die sollen sich begegnen. Zum Beispiel freue ich mich riesig, dass ich den Regisseur Johan Simons mit dem Bühnenbildner Bert Neumann zusammengebracht habe.“ Beides alte Hasen und große Individualisten. Sieben Jahre hat Baumbauer gebraucht, um Luk Perceval für das deutsche Theater zu gewinnen, seit acht Jahren ist er bereits hinter Simon McBurney her, „Weltstar“ und Direktor des Theatre de Complicite. Und der Mann, der von sich sagt, er sei kein Langstreckenläufer, ist noch immer in der Phase der Vertrauensbildung: „Ich bin schon manchmal nach London gefahren, um über München zu sprechen, und dann ertappt man sich dabei, dass man mit McBurneys kleinen Neffen Kartentricks übt. Das gehört dazu, um nicht zu sagen, ‚Ich kauf dich.‘ Und Kaufen, ganz klar, ist keine Alternative für einen, der so viel lieber verführt. Gerne auch eine ganze Stadt.