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Zwölf Fragen und Antworten zur Verfassungsklage des Senats: Warum die Milliarden nicht vor 2007 kommen, die Kita-Gebühren selbst dann nicht sinken werden und die Banken am meisten profitieren

Warum klagt das Land Berlin vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe?

Der Senat hat schon im November 2002 festgestellt, Berlin befinde sich in einer „extremen Haushaltsnotlage, aus der es sich aus eigener Kraft nicht befreien kann“. Man hofft auf etwa 35 Milliarden Euro Saniergungshilfen vom Bund. Doch der Bund sieht das anders: Berlin müsse nur weiter Ausgaben senken, also sparen. Bleibt Berlin nur die Klage. Karlsruhe soll nun klären, ob Berlin die vom Bund aufgestellten Kriterien für eine Notlage erfüllt oder nicht.

Woher kommen die Finanzprobleme?

Die Berliner Finanzprobleme haben eine lange Geschichte, die größten Fehler sind aber Anfang der 90er-Jahre gemacht worden. Nachdem das alte West-Berlin jahrzehntelang am Tropf der Bundesregierung gehangen hatte, fuhr der Bund in der Nachwende-Aufbruchstimmung seine Berlin-Hilfen innerhalb weniger Jahre auf null zurück. Die Hoffnung, dass die Hauptstadt boomt und sich so ihre Finanzprobleme von alleine lösten, erfüllte sich nicht. Im Gegenteil: Die eigenen Steuereinnahmen der wirtschaftsschwachen Stadt sanken, die Ausgaben, vor allem im öffentlichen Dienst, stiegen. Zudem setzte die große Koalition der 90er-Jahre fast sämtliche ihrer teuren Großprojekte in den Sand: etwa die Olympiabewerbung, die neu gegründete Bankgesellschaft, den Ausbau Schönefelds.

Hat die Klage in Karlsruhe Aussicht auf Erfolg?

Finanzsenator Sarrazin ist davon überzeugt, dass Berlin die vom Bund aufgestellten Kriterien für eine extreme Haushaltsnotlage erfüllt: überdurchschnittliche Pro-Kopf-Verschuldung und die Aufnahme neuer Kredite zur Finanzierung laufender Ausgaben. Sanierungshilfen gibt es aber nur, wenn das Land unverschuldet in die Notlage geraten ist und sich nicht aus eigener Kraft daraus befreien kann. Beides bestreitet der Bund.

Warum fließt das Geld nicht vor dem Jahr 2007?

Weil Berlin sich die erhofften 35 Milliarden nicht gleich an der Gerichtskasse abholen kann, auch wenn Karlsruhe im besten Fall Anfang 2005 entscheidet. Donnerstag liegt die Klage – offiziell ein Normenkontrollantrag – den Richtern vor. Dann hat die Bundesregierung sechs Monate Zeit für eine Stellungnahme – plus drei Monate Verlängerung. Es folgt die mündliche Verhandlung, bestenfalls im Herbst 2004. Im Präzedenzfall, der Bremer Klage, entschied das Gericht zwei Monate später. Auch das Urteil wäre nur die Aufforderung, das Finanzausgleichsgesetz zugunsten Berlins zu ändern. Dieser Beschluss muss durch den Bundestag und den Bundesrat, und das kann dauern. Vor allem vor der Bundestagswahl 2006 – Hans Eichel wird die Sache gerne in die nächste Legislaturperiode abschieben. Klappt es doch vorher, fließt das Geld aus dem nächsten Bundeshaushalt, also 2007.

Werden die Kita-Gebühren sinken, wenn das Geld vom Bund kommt?

Leider nicht. Selbst wenn Berlin erfolgreich klagen sollte, ändert sich seine primäre finanzielle Situation wenig. Die vorhandene Lücke zwischen Einnahmen und Ausgaben, die zum Sparen zwingt, bleibt bestehen. Langfristig gewinnt Berlin aber finanzielle Spielräume, weil es weniger Zinsen für seine Schulden zahlen muss, wenn die vorhandenen Schulden Schritt für Schritt getilgt werden. Zurzeit gehen in Berlin rund 2,4 Milliarden Euro jährlich für Zinsen drauf.

Wird Berlin bald von einem Sparkommissar des Bundes regiert?

Nein. Aber ähnlich wie das Saarland und Bremen, die seit 1994 Sonder-Bundeshilfen erhalten, wird Berlin regelmäßig dem Bund berichten müssen, wie es seine Finanzprobleme lösen will. Das Gericht kann auch entsprechende Auflagen aussprechen.

Was passiert, wenn die Klage scheitert?

Dann steigt der Schuldenstand bis 2020 auf etwa 120 Milliarden Euro, schätzt der Finanzsenator. Pleite ist Berlin dann noch immer nicht. Laut Finanzausgleichsgesetz stehen Bund und Länder füreinander ein. Spätestens dann müsste Berlin alle Leistungen hinterfragen, zu denen es nicht bundes- oder verfassungsrechtlich verpflichtet ist. Dann wird es sehr ungemütlich in Berlin.

Wie ergeht es Bremen und dem Saarland heute, die schon Bundeshilfe erstritten?

Ende der 80er-Jahre hatten Bremen und das Saarland – nach der Werften- bzw. Stahlkrise in finanzielle Not geraten – wegen hoher Verschuldung vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt. Seit 1994 überweist der Bund Sonderhilfen, bis 2005 werden es 15 Milliarden Euro sein. Allerdings dürfte etwa Bremen, das insgesamt 8,5 Milliarden Euro erhält, auch nach 2005 Schwierigkeiten haben, einen verfassungskonformen Haushalt vorzulegen. Bremer Politiker drohen bereits mit einer neuen Klage.

Bei wem hat Berlin eigentlich die Milliarden-Schulden?

Bei Banken, Versicherungen, sonstigen Firmen und vielleicht auch bei Ihnen. Langfristige Kredite verschafft sich Berlin nämlich durch Landesschatzbriefe und Wertpapiere. Solche staatlichen Anleihen sind wegen der hohen Sicherheit in so gut wie allen Fonds und Lebensversicherungen vertreten – vielleicht auch in Ihrer. Reine Kredite nimmt Berlin eigentlich nur für den kurzfristigen Geldbedarf bei öffentlichen und privaten Banken auf. Weil die auch am Handel mit den Schuldscheinen und Wertpapieren verdienen, profitieren sie natürlich auch am meisten an den Berliner Schulden.

Wenn Berlin pleite ist, warum kriegt es dann immer wieder frisches Geld?

Weil das Land streng nach Definition gar nicht pleite ist. Pleite heißt demnach, das einem keiner mehr Geld gibt. Doch Berlin muss sich keineswegs die Hacken ablaufen, um immer neue Kredite zusammenzubekommen – für das nächste Jahr beispielsweise 5,5 Milliarden Euro. Alles eine Sache der Verlässlichkeit: „Die Banken betrachten uns als Teil des Finanzverbunds Bund“, sagt Thilo Sarrazin. Und so lange der haftet, halten die Banker ihre Kredite für gesichert. Rating-Agenturen – sie legen die für Banken entscheidende Messlatte – stufen Berlin in die obere Kategorie „AA–“ ein. Dieses Vertrauen der Banken könnte sich deutlich abschwächen, wenn sich beim Verfahren in Karlsruhe zunehmend zeigen sollte, dass Berlin mit seiner Klage scheitern könnte.

Warum stimmt die Opposition der Verfassungsklage des rot-roten Senats in Karlsruhe zu, während sie gegen den Doppelhaushalt 2002/03 Verfassungsklage anstrengt?

Das ist eine Frage der Innen- und Außensicht. Nach außen hin geht es darum, für Berlin Hilfen reinzuholen: Da sind alle fünf Fraktionen in Opposition zum Bund, der nicht zahlen will. Im Land aber werfen CDU, Grüne und FDP dem rot-roten Senat schlechte Haushaltswirtschaft vor. Sie wollen nicht hinnehmen, dass die Kredite im Haushalt 2002/2003 deutlich über den Investitionen liegen, was laut Verfassung nicht sein darf. Der Regierende Bürgermeister rechtfertigt seinen Kurs mit einer „Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“, die Ausnahmen zulasse. Ob das so ist, verhandelt morgen der Berliner Verfassungsgerichtshof.

Was hat das alles mit der geplanten Fusion mit Brandenburg zu tun?

Sehr viel. Denn die im ersten Anlauf 1996 schon mehrheitlich ablehnenden Brandenburger fragen sich zunehmend, warum sie mit den noch höher als sie selbst verschuldeten und wirtschaftlich stagnierenden Berlinern zusammengehen sollen. Klar wie Kloßbrühe sei es, dass die Fusion vor diesem Hintergrund nicht klappen könne, heißt es aus der Finanzverwaltung. Eine Verschiebung des Fahrplans – 2006 Volksabstimmung, 2009 Fusion – schließt man aus, weil die Fusion sonst für immer gestorben sei. Offiziell sagt der Finanzsenator, der Bund müsse erkennen, dass er früher oder später sowieso zahlt, aber hier mit seinem Geld noch die Fusion der beiden Länder bekomme. JRZ, ROT, STA