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Archiv-Artikel

So viel Lohn muss sein

Moralische, vor allem aber ökonomische Gründe sprechen dafür, in Deutschland endlich einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen. Das zeigt das Vorbild Großbritannien

Auch innerhalb der DGB-Gewerkschaften gibt es noch eine Abwehrfront gegen den Mindestlohn

Vom kommenden Jahr an müssen Langzeitarbeitslose, denen man die Arbeitslosenhilfe streicht, jeden „legalen“ Job annehmen. Jobs, die bis zu 30 Prozent vom ortsüblichen Tarif nach unten abweichen können. Wenn das Bewachungsgewerbe in Thüringen einen tariflich vereinbarten Stundenlohn von 4,30 Euro Brutto bezahlt, muss der Hartz-IV-Helot bald akzeptieren, für drei Euro zu arbeiten. Der Wessi-Helot im Bewachungsgewerbe Schleswig-Holstein mit einem tariflichen Stundenlohn in Höhe von 5,60 Euro Brutto hat sich mit einem Stundenlohn von 4 Euro Brutto abzufinden.

Solche Zwangsjobs sind entwürdigend. In Deutschland sollte deshalb ein gesetzlicher Mindestlohn oberhalb der Pfändungsgrenze (930 Euro) eingeführt werden, denn die Pfändungsgrenze zeigt an, was ein Mensch in Deutschland im Kern zur Existenzsicherung braucht. Aber auch unabhängig von moralischen Überlegungen sprechen ökonomische Gründe für einen gesetzlichen Mindestlohn.

Die Vorstellung, über niedrige Löhne die deutsche Wirtschaft in Schwung zu bringen, ist aberwitzig. Die Rede von den relativ hohen Lohnkosten in Deutschland trifft zu – aber in einem positivem Sinn, denn hohe Löhne wirken nämlich als Produktivitätspeitsche, denn sie stacheln die Betriebe an, die Arbeit effektiver zu gestalten. Das beweisen die Exporterfolge der deutschen Unternehmen auf dem Weltmarkt. Die Gewerkschaften sind eine Triebfeder der Modernisierung und damit Wettbewerbsfähigkeit in der Arbeitswelt. Vorausgesetzt, dass ihre Erfolge in der Tarifpolitik nicht allzu sehr der Produktivitätsentwicklung hinterherhinken, wie es sich seit ein paar Jahren abzeichnet.

Es stimmt – der Preis dafür ist, dass einfache Arbeitsplätze in Billiglohnländer verlagert oder rationalisiert werden. Dies ist allerdings in der exportorientierten Industrie unvermeidbar. Wenn Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt die Überlegungen in der Regierung über die Einführung eines Mindestlohns scharf kritisiert und meint, es wären neue Jobs in einfachen Tätigkeiten durch eine weitere Absenkung des Lohnniveaus erreichbar (euphemistisch „Spreizung der Löhne“ genannt), weiß man nicht: ist dies nur eine zynische Volksverdummung oder nur ökonomischer Unsinn.

Wer fordert, Deutschland müsse sich dem Wettlauf um die geringsten Löhne und Steuern stellen, setzt den Vorteil des Standorts aufs Spiel. Die Erfahrungen im Nachbarland Holland sollten eine Warnung sein. Dort bewirkte die Lohnmäßigung, dass die holländischen Unternehmen wichtige Prozessinnovationen und Rationalisierungen vernachlässigten. Sie hatten sich ein paar Jahre auf kurzfristigen Kostenvorteilen durch Lohnverzicht ausgeruht. Die Folge: Heute befindet sich die niederländische Wirtschaft in der größten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit. Ihre Produkte haben auf dem Weltmarkt an Konkurrenzfähigkeit verloren – auch gegenüber deutschen Herstellern. Allerdings haben die Niederlande mit einem gesetzlichen Mindestbruttolohn in Höhe von rund 1.250 Euro für eine Vollzeitstelle ihr Polder-Modell wenigstens vor einem Gleitflug in ein Working-poor-Land bewahrt.

Ökonomisch gilt: Wenn die Unternehmen Löhne zahlen, die kaum zum Leben reichen, fällt die Produktivität bei den Arbeitnehmern. Arbeitnehmer, die sich unfair behandelt fühlen, gehen in die „innere Kündigung“. Die Motivation zu arbeiten erschlafft. Ein Mindestlohn schützt vor diesem Produktivitätsverfall. Ohne einen Mindestlohn wird das „Humankapital“ vieler Menschen rasch verfallen – Qualifikationsangebote für ein „Lebenslanges Lernen“ darf man getrost vergessen.

Aus ideologischer Verblendung sind die Arbeitgeber oder zumindest ihre Repräsentanten bisher strikt gegen einen gesetzlichen Mindestlohn. Aber auch innerhalb der DGB-Gewerkschaften gibt es noch eine Abwehrfront, auch wenn sich die Gewerkschaft Nahrung, Genuss-Gaststätten und Ver.di dafür aussprechen.

Die Gegner setzen nach wie vor auf die Gestaltungskraft der Tarifpolitik und fürchten, die Tarifautonomie könne über die Festsetzung eines Mindestlohnes durch den Staat erodieren. Sie wollen nicht zur Kenntnis nehmen, dass Vollzeitjobs mit Löhnen weit unterhalb des durchschnittlichen Einkommens seit Anfang der 90er-Jahre deutlich zugenommen haben. Die Schutzfunktion unterer Tariflöhne konnte die Zementierung der Working-poor-Jobs also nicht verhindern. Den Gewerkschaften fehlte und fehlt dafür das Durchsetzungsvermögen – das ist ihnen nicht vorzuwerfen. Sie dürfen davor aber nicht mehr die Augen verschließen, denn diese Politik läuft an den Interessen der Ärmsten vorbei.

Arbeitnehmer, die sich unfair behandelt fühlen, gehen in die „innere Kündigung“

Das gilt auch für den IG-Bau-Agrar-und-Umwelt-Vorsitzenden Klaus Wiesehügel, der einen gesetzlichen Mindestlohn deutlich ablehnt. Er verweist darauf, dass sich in seinen Branchen die Tarifparteien auf einen Mindestlohn geeinigt haben. Er befürchtet, dass eine gesetzliche Regelung „alle Löhne weiter runterziehe“. In der Mehrzahl der alten EU-Länder gibt es jedoch einen gesetzlichen Mindestlohn (außer in Deutschland nur nicht in Dänemark, Finnland, Österreich und Schweden, wo allerdings Armutslöhne eine marginale Rolle spielen, und Italien), und die Erfahrungen zeigen überdies: Gesetzliche Mindestlöhne haben positive Auswirkungen auf das Einkommensniveau insgesamt. Tarifliche Regelungen müssen von einem gesetzlichen Mindestlohn nicht tangiert werden, sondern könnten im Sinne einer Art Subsidiaritätsprinzip erhalten bleiben, sofern sie oberhalb der Pfändungsgrenze liegen. Die Gewerkschaften könnten sich sogar gestärkt fühlen und sich auf eine Tarifpolitik oberhalb der Armutsschwelle konzentrieren. Vier von fünf Betriebsräten halten eine Flankierung der Tarifpolitik durch einen gesetzlichen Mindestlohn übrigens für sinnvoll – sie wissen, was es heißt, vom Arbeitgeber erpresst werden zu können.

Auch im Arbeitgeberlager könnte die Abwehrfront bröckeln. In Großbritannien malten die Arbeitgeber vor der Einführung des Mindestlohnes im Jahre 1999 ein Horrorszenario an die Wand: 2,5 Millionen Jobs würden verloren gehen. Tatsächlich sind seitdem sogar ein Million neue Jobs entstanden. Eine Friseuse verdient heute in Großbritannien rund 6,50 Euro Brutto pro Stunde – in Ostdeutschland hingegen lediglich 3,30 Euro. Das ist ein erheblicher Unterschied, auch wenn die Lebenshaltungskosten nicht gleich sind. In Großbritannien stiegen die Lohnkosten für alle Unternehmen gleichermaßen. Die allgemeine Kaufkraft der Arbeitnehmer wird dadurch gestärkt, und das kommt dem Binnenmarkt zugute. Die Arbeitgeberverbände haben sich mit dem Mindestlohn nicht nur arrangiert, sondern wissen seine Schutzfunktion zu schätzen. Ohne einen Mindestlohn käme es in manchen Branchen zu einem zerstörerischen Lohndumping, und die Unternehmen könnten ihre Preise nicht mehr kalkulieren. Großbritannien ist deshalb in diesem Sinne ein Vorbild für Deutschland. INGO ZANDER