: Abschied vom Helferprinzip
Der Zwang zum zwölfjährigen Turbo-Abi entsetzt Gesamtschulpädagogen in Niedersachsen. Viele fürchten das Ende des integrierten Unterrichts, andere wollen nach intelligenten Lösungen suchen
VON KAIJA KUTTER
Wie eine Bombe schlug die Ankündigung von Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) ein, auch die Integrierten Gesamtschulen (IGS) im Lande dürften künftig nur noch das auf zwölf Jahre verkürzte Abitur anbieten. Viele Schulleiter sehen darin das Ende der Gesamtschulpädagogik, die darauf basiert, dass Kinder von der 5. bis zur 10. Klasse gemeinsam lernen. „Ich bin sprachlos. Das ist überhaupt nicht durchdacht“, sagt auch der Vorsitzende des Landeselternrats, Matthias Kern. Und Gerhardt Hildebrandt von der Gemeinnützigen Gesellschaft Gesamtschulen (GGG) spricht von einer „Riesengemeinheit“.
Bei dem um ein Jahr verkürzten Abitur muss mehr Stoff in weniger Zeit vermittelt werden. Ein Anspruch, der schon bei den in der Regel leistungsstärkeren Gymnasiasten zu Stress führt. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Gesamtschulen das hinkriegen, ohne zweizügig zu fahren“, sagt der Oberstufenleiter der IGS Mühlenberg, Werner Scheffler. „Wir müssten wahrscheinlich ab Klasse 5 die Schüler in einen Gymnasiumszweig und einen Gesamtschulzweig trennen“. Doch dabei sei das „Helferprinzip“, dass stärkere Schüler die schwächeren unterstützen, nicht mehr möglich. Auch Kern fürchtet, dass die IGS künftig „zweigleisig fahren“ müssen.
Gerhardt Hildebrandt ist nicht ganz so pessimistisch. „Unsere grundsätzliche Position ist, 13 Jahre bis zum Abitur sind besser“, sagt er. „Aber wenn wir es nicht dürfen, müssen wir die intelligenteste Lösung suchen.“ Er könne sich vorstellen, dass man den Unterricht in den Klassenstufen fünf bis sieben nicht verändere und erst ab Klasse 8 mit der Verkürzung beginne. Ein Vorteil der bestehenden 28 IGS ist, dass sie gebundene Ganztagsschulen mit Nachmittagsunterricht an vier Tagen sind. Hildebrandt könnte sich Umschichtungen vorstellen, so dass die Kinder statt Wahlpflichtangeboten je eine Stunde mehr Mathematik, Englisch, Deutsch und Naturwissenschaften haben. „Trotzdem ist dies bildungspolitisch eine Unverschämtheit“, sagt er. „Es gibt keine fachliche Begründung, außer der, uns Gesamtschulen schaden zu wollen.“
Die IGS waren bisher die Gewinner der vermurksten Schulzeitverkürzung. Seit Jahren steigen die Anmeldungen sowohl für die 5. Klassen als auch für die 11. Klassen an. Schüler, die die Mittelstufe im achtjährigen Gymnasium (G8) verbrachten, versuchen so, eine etwas entspanntere Oberstufenzeit zu erlangen. „Wir hatten jetzt 170 Anmeldungen für 65 freie Plätze in der 11. Klasse“, berichtet Werner Scheffler für die IGS Mühlenbach. Auch steigerte sich der Anteil der gymnasialempfohlenen Kinder in Klasse 5 auf 30 Prozent. Ein Indiz dafür, dass hier Eltern eine Alternative zum G 8 suchen.
Zwar hat Kultusministerin Elisabeth Heister-Neumann (CDU) einen Runden Tisch einberufen und Maßnahmen zur Entlastung der Schüler verfügt, doch die Probleme gibt es weiter. „Die Diskussion brennt nach wie vor“, sagt Matthias Kern. So werde es den Schulen selbst auferlegt, die Lehrpläne zu entrümpeln.
„Die Kinder leiden unendlich am Gymnasium“, sagt auch Bernd Siegel vom Elternverband für Gesamtschulen Niedersachsen. Das Problem sei aber nicht nur die Zeit, sondern „die Art und Weise, wie dort mit Kindern umgegangen wird“. Er glaube, dass an den Gesamtschulen dank kindgerechterem Lernen dieser Druck nicht in gleicher Weise entstehen würde.
Doch künftig fehlt Eltern die Wahl, die ihren Kindern schlicht ein Jahr mehr Zeit lassen wollen. Andreas Krischat vom Kultusministerium widerspricht. Schüler könnten ja nach der Realschule das Fachabitur zu machen. „Dann haben Sie 13 Jahre.“