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Archiv-Artikel

Freiwild für den „Löwen von Huchting“

Bigger than life (1): Am Samstag wurde im Hinterhof eines Bremer Industriegebietes die „Internationale Deutsche Meisterschaft“ im Boxen ausgetragen. Mit dabei: KickboxerInnen, Go-Go-Girls und zwei Champs, von denen einer durch Lichtausfall gewann. Dabei sah alles zunächst so aus wie bei „Rocky“

Kurz nach 20 Uhr, Meldung per Funk an die Zentrale: „Circa 80 Leute. Scheint eine etwas schleppende Veranstaltung zu sein.“ Die Staatsmacht zeigt Präsenz. Schließlich ist es einer dieser Orte, an denen nach Einbruch der Dunkelheit entweder gar nichts passiert oder etwas richtig Fieses. Ein Ort, der nachts unberechenbar ist, weil er tagsüber ausschließlich der Berechnung gehört: Werktags zwischen 9 und 18 Uhr geht es in diesem Industriegebiet in der Bremer Neustadt um Gewinnmaximierung, um Logistik, Profit und Prozente. Nachts allerdings ist hier Schluss mit Call-Center, nachts gibt es hier nur eigenschaftslose Gebäude, vergitterte Einfahrten und Fenster aus Milchglas. An einer der Einfahrten steht an diesem Samstagabend: „Der Veranstalter übernimmt keine Haftung für Sach- und Personenschäden.“ Und: „Das Mitbringen jeglicher Art von Waffen ist auf diesem Gelände verboten.“ Der Polizist sagt zur Zentrale: „Ich bleib’ auf jeden Fall noch mal hier.“

Der Polizist steht am Kopfende dieses Hinterhofes, gleich neben dem Eingang, und hat alles im Blick. Links der „Küstenlümmel – das Original“: eine mobile Würstchenbude im Autobus mit preiswertem Aldi-Bier. Rechts ein Bierstand, der Klassiker. In der Mitte des Hinterhofs, der Boxring. Dahinter steht ein Wohnwagen, auf dem eine wackelige Beleuchtungsanlage angebracht ist. Ansonsten stehen um den Ring Plastikstühle auf grobkörnigem Asphalt. Eine Arena. Wie bei „Rocky“ – nur ein bisschen abgespeckt. Und mit weniger Publikum.

Dabei geht es heute Abend um die „Internationale Deutsche Meisterschaft“. Tatsächlich, die „Internationale Deutsche Meisterschaft“. Ausgelobt wird sie von dem Bremer Verband Deutscher Faustkämpfer (VDPF) – eine Bremer Konkurrenzveranstaltung zum Bund Deutscher Berufsboxer (BDB), der allgemein anerkannt im großen Stil Meisterschaften ausrichtet. Wichtig zu wissen: Der Bremer VDPF hat ganze 35 Mitglieder und wurde gegründet von Michael Ramm. Eben dieser Michael Ramm tritt als der „Löwe von Huchting“ im selbst organisierten Meisterschaftskampf an gegen den Duisburger Thomas Matoi. Aber nicht sofort. Es ist kurz nach 20 Uhr und drei Stunden später wird die Ringsprecherin sagen: „Das haben Champs so an sich, die lassen immer gerne auf sich warten.“ Das Beste gibt’s zum Schluss, Showdown, Höhepunkt, Kampf über zehn Runden, die Entscheidung, klarer Fall.

Vorher allerdings: Warmmachen. Ramm sich selbst im Verborgenen und die tapfere Ringsprecherin das Häuflein Zuschauer auf dem Hinterhof. Die Programmliste ist durch Mithilfe der Shaolin Kung-Fu-Schule lang: Kickbox der Damen, zwei Paarungen; Kung-Fu-Soloauftritte, zwei Stück, einer davon demonstriert die „Schildkröten-Donnerfaust-Technik“; Schaukampf „Doppelte Fausttechnik gegen Kickboxing“; „Rahmenamateurboxkämpfe“, zwei Stück, einer davon mit blutigen Nasen. Und: sexy Tanzeinlagen; die Unique Dancers sind gleichzeitig die Ring-Girls und die Go-Go-Girls für den Pausenhüftschwung. Ein Mädchen der Truppe soll am Schluss per Publikumsvotum zur „Miss Ring Fight Night“ gekürt werden.

Das alles passiert in dieser Boxnacht, vor allem aber gibt es diese Ruhe. Links taucht die Sommersonne die Flachbausilhouette in ein mildes Licht. Von rechts steuern haushohe Parkplatzlaternen orange Lichttupfer bei. Die Lautsprecher entschleunigen das milde Sommerlüftchen mit asiatisch-meditativer Musik von Oliver Shanti. Die Ringsprecherin kündigt viele, viele Pausen an. Und die Go-Go-Girls pflücken in ihren Pausen an den Büschen nebenan Brombeeren.

Nachdem die Sonne weg ist, gehen die Scheinwerfer über dem Wohnwagen an und geben den Zuschauern kräftig Gegenlicht – die Haupttribüne leert sich, die Arena strahlt in dezentem Autoscheinwerfer-Gelb. Könnte ein schweißnasser B-Movie sein, wären da nicht die weißen Plastikstühle und: diese Gelassenheit. Diese Unaufgeregtheit. Diese Entdeckung des Kampfsport-Laisser-Faire. Als im Ring auf einmal zwei Nasen blutig sind, sagt einer im Publikum: „Wovon eigentlich?“ Und der Trainer eines Kämpfers schreit nicht, er flüstert: „Linker Körperhaken, Ali. Geheimtipp!“

Der Moment, in dem Michael Ramm und Thomas Matoi auflaufen, ist dann der Augenblick, in dem der „Küstenlümmel“ das Gelände verlässt. Zehn Runden, nahende Entscheidung, und unvermeidlich: „Eye of the tiger“ aus den Boxen. Für Sylvester „Matoi“ Stallone. Ramm lässt Hip-Hop abfahren: „He’s coming.“ Und dann bittet die Ringsprecherin die „Miss Ex-Universe“ auf die Bühne. Tatsächlich, die „Miss Ex-Universe“, die da ist, um bei den „Internationalen Deutschen Meisterschaften“ die Deutschland-Fahne zu halten. Der Ringrichter bittet das Publikum aufzustehen, und Ramm lässt die deutsche Nationalhymne abfahren. Die übrig gebliebenen rund 40 Zuschauer verschränken die Arme wie beim Gebet. Einige halten sich das Herz. Das mit dem Boxen ist ab jetzt irgendwie vorbei, hier ist nichts mehr wie im richtigen Leben. Aber hier ist auch nichts mehr wie im Kino.

Der Gong erklingt und zwei schwergewichtige Männer stehen im Gegenlicht. Ramm kloppt und Matoi lässt ihn kommen, kalkuliert kraft Körpermasse offensichtlich damit, dass Ramm konditionell keine zehn Runden durchhält. Was Ramm allerdings auch nicht muss: In Runde zwei gibt die Beleuchtungsanlage den Geist auf. Verwirrung, Unklarheit, schließlich: Ende des Kampfes. Ramm wird nach zwei Runden zum Sieger nach Punkten gekürt.

Kopfschütteln im Publikum. Das Licht geht wieder an, und Ramm tritt mit Lobeerkranz um den Hals ab. „Ramm hätte die zehn Runden niemals durchgehalten“, sagt ein Fachmann im Publikum. Also Manipulation? „Nein, das war Pech“, meint er. „Aber es ist ein Witz. Ein richtig böser Witz.“

Ramm ist längst abgetreten und über den Asphalt klappern jetzt die Reiseköfferchen der Go-Go-Girls. Die Sache mit der „Miss Ring Fight Night“ hat sich erledigt. Aber einen neuen „internationalen deutschen Meister“, den gibt es. Ob sie noch mal als Ringsprecherin auftreten wolle, wird die Ringsprecherin gefragt. „Nein“, sagt sie. „Das war das letzte Mal.“ Klaus Irler