: Verurteilt durch Inkompetenz und Lügen
Fehlerhafte Bluttests eines Polizeilabors in Texas führten möglicherweise zur ungerechtfertigten Verurteilung tausender Verdächtiger. Dies ist nicht der erste Skandal des Houstoner Labors, denn schon DNA-Tests waren zweifelhaft
PHILADELPHIA taz ■ George Rodriguez hat wieder Hoffnung. Seit 17 Jahren sitzt der 43-Jährige ein im Staatsgefängnis in Houston, Texas. Er wurde wegen Entführung und Vergewaltigung eines 14-jährigen Mädchens zu 60 Jahren Gefängnis verurteilt. Ein Bluttest hat ihn überführt. Scheinbar.
Sechs unabhängige Wissenschaftler haben nun das Gegenteil festgestellt: Der Bluttest war falsch. Rodriguez komme als Täter nicht in Frage, hätten DNA-Tests ergeben. Die Wissenschaftler gehen in ihrem Bericht, den sie letzte Woche dem zuständigen Gericht vorlegten, noch weiter: Laborangestellte der Kriminalpolizei in Houston könnten auch in anderen Fällen zu „falschen und wissenschaftlich fraglichen Ergebnissen“ gekommen sein – zu Ergebnissen also, die wie im Fall Rodriguez zu langen Haftstrafen oder sogar Todesurteilen geführt haben könnten.
Gerade Texas ist dafür bekannt, nicht zimperlich mit Verurteilten umzugehen. Seit Wiedereinführung der Todesstrafe in den USA 1976 wurden im Heimatstaat von George W. Bush 323 Menschen exekutiert, mehr als dreimal so viele wie in anderen Bundesstaaten. Allein im Bezirk Harris, in den Houston mitsamt seinem zweifelhaften Polizeilabor fällt, wurden 73 Todesurteile vollstreckt.
Initiiert wurde die unabhängige Untersuchung dank der Hartnäckigkeit des New Yorker Innocent Project, das sich für die Rechte von Häftlingen einsetzt. Rodriguez war zwar von dem Vergewaltigungsopfer auf einem Foto identifiziert worden, hatte aber ein Alibi. Sein Chef sagte, Rodriguez habe zur Tatzeit gearbeitet. Es stand Aussage gegen Aussage.
Der für den Fall zuständige Labormitarbeiter James Bolding hat dann den Bluttest durchgeführt. „Unsere Experten wissen nicht, ob Bolding gelogen hat oder ob er einfach nur völlig inkompetent ist“, sagte Mark Wawro, Aktivist des Innocent Project aus Houston. Bolding ist kein unbeschriebenes Blatt. Er war zunächst zum Chef der Blut-Laborabteilung aufgestiegen und wurde danach Leiter der DNA-Abteilung. Auch da sorgte er für Schlagzeilen.
Schon einmal, im Jahr 2002, gab es in dem berüchtigten Houstoner Polizeilabor einen Skandal um zweifelhafte Ergebnisse. Schon einmal wurde eine Kommission eingesetzt, die festgestellte, dass die Labormitarbeiter ungenügend ausgebildet waren und Ergebnisse falsch interpretiert hatten. 360 Fälle verurteilter Häftlinge wurden noch einmal untersucht. Ergebnis: 40 Fälle sind zweifelhaft. Der 21-jährige Josiah Sutton, der zu 25 Jahren Haft wegen Vergewaltigung verurteilt wurde und schon vier Jahre einsaß, wurde sofort nach der Untersuchung entlassen. Die DNA-Abteilung in Houston wurde geschlossen, die Überprüfung der Proben dauert noch an. Bolding ist einer Kündigung zuvorgekommen, nachdem sein Polizeichef ihm einen solchen Schritt nahe gelegt hatte.
Die Folgen des jüngsten Skandals sind noch nicht absehbar. Die unabhängige Kommission empfahl dem Gericht, die Resultate von Blut- und Spermaproben aus den vergangenen Jahrzehnten noch einmal überprüfen zu lassen. Doch das könnte Jahre dauern. „Das wären mindestens 5.000 bis 10.000 Fälle“, erklärte Elizabeth Johnson, früher Direktorin eines DNA-Labors im Bezirk Harris. „Wenn man die Haarproben noch dazunehmen würde, gingen die Untersuchungen ins Unendliche.“
Noch ist Rodriguez nicht frei. Houstons Polizeichef Harold Hurtt versprach aber immerhin, dass er sich des Falls noch einmal annehmen werde.
THILO KNOTT