: Der globale Plastikstuhl
Wer kommt ins Theater im Jahr 2020? Wie wird verteilt und produziert? Das Projekt „Mutation“ des Theaters Lubricat schickt Kultur durch einen Testlauf der Globalisierung
Am Ende des Mauerparks zwischen Berlin-Wedding und Prenzlauerberg liegt die Polizeistation 7/76. Vermutlich haben die Beamten hier eine Menge zu tun – zu sehen ist das nicht. Vor allem nicht von hinten. Wer an einem Sicherheitsbeamten vorbei den Hof betritt, findet sich vor einer kleinen Turnhalle aus dem 19. Jahrhundert wieder, zwischen verstreuten Gartenstühlen, Fahrrädern und blühendem Oleander. Für solch unverhofften provinziellen Charme ist die Hauptstadt berühmt. Dass im Jahr 2020 63 Prozent der Erdbevölkerung in Städten leben werden, kann einen aus Berliner Sicht nicht schocken.
Dirk Cieslak, Regisseur der seit 1993 aus Berlin operierenden Theatergruppe Lubricat, findet die Zahl jedoch zumindest bedenklich. Oder präziser: bedenkenswert. Welt = Stadt lautet die Ausgangsformel seines Projekts „Mutation“, das wuchernde urbane Netzwerke als Lebensform beschreiben will. Konsequenterweise als Work in Progress.
Gesucht wird ein adäquater dramatischer Umgang mit dem Phänomen der Globalisierung. Geprobt wird in einer Turnhalle im Hinterhof und im Internet. „Die Symptome der Globalisierung kennt jeder. Aber wie sie funktioniert, versteht kaum einer. Wir haben gedacht, wir müssen das mal ausprobieren: Globalisierung. Wie wird produziert? Wie wird verteilt?“, fragt Cieslak rhetorisch in die Morgensonne, auf einem jener weißen, weltweit Höfe, Gärten und Straßenlokale ausstattenden Plastikstühle sitzend, die bereits Teil der Antwort geben. „Datenströme und Vernetzung sind die zentralen Tools, also haben wir mit dem Aufbau einer Website und einer Art Korrespondentennetzwerk begonnen.“
Heute gibt es neben Berlin auch in Buenos Aires, Lagos, Richmond/Virginia und Schanghai jeweils fünfköpfige „Mutation“-Gruppen. Gemeinsam kommunizieren sie über www .mutation-workspace.de, wo die Performer Einträge zu einer beliebigen Kombination vorgegebener Stichworte von A wie „alone“ über N wie „(no)normality“ bis W wie „work“ machen können. Das im virtuellen Raum entstehende Material ist inhaltliche Basis der Proben vor Ort. Diese finden, samt abschließenden Vorstellungen, nacheinander mit den verschiedenen lokalen Casts statt, wobei Dirk Cieslak sowie zwei deutsche Schauspieler jeweils dabei sind. Im Juni 2004 werden dann alle fünf Teile gemeinsam an den Berliner Sophiensælen gezeigt.
Ob sich ein derartiger logistischer und finanzieller Aufwand lohnt, um am Ende doch einfach vor Publikum auf einer Bühne zu spielen, kann bezweifelt werden. Die Idee des Ritts durch die Virtualität und über fünf Kontinente klingt mächtig, als wolle das alte Medium Theater mal wieder mords aufholen im Wettlauf der Aktualitäten – und dabei vor lauter Anschlusswillen seine Stärken aus den Augen zu verlieren. Befürchtungen, die Cieslak nicht teilt. „Es geht uns nicht darum, das Theater schicker zu machen. Die Technik ist hier Werkzeug. Mich interessieren Produktionsweisen, nicht Geschichten.“
„Es geht mehr um Recherche“, „um Formen der Weltaneignung“, ergänzen die Schauspieler Miriam Fiordeponti, Martin Clausen und Matthias Breitenbach, die am Interview auf den globalen Plastikstühlen teilnehmen: „Um die Arbeit als Schauspieler und denkender Mensch.“ Die Verbindungen zu den anderen beteiligten spielenden und denkenden Menschen kamen unterschiedlich zustande: Nach Buenos Aires stellte die in Berlin lebende argentinische Choreografin Constanza Macras einen Kontakt her, in China fanden sich die Teilnehmer mit Hilfe eines dort ansässigen italienischen Galeristen, den Weg nach Nigerien ebnete der Hamburger Dokumentarfilmer Matthias Heeder. Da Lagos zwar über ein gigantisches Nationaltheater verfügt, aber kein Theaterpublikum, wird dort mit Unterstützung des Maison de France ein „Mutation“-Video gedreht, das mit Glück auch den Weg in den westafrikanischen Fernsehmarkt findet. Um Kulturaustausch im klassischen Sinne geht es Lubricat nicht: „Wir wollen nicht Verständnis, sondern Kurzschlüsse erzeugen.“ Wesentlich sei, dass sich das Projekt nicht durch die Erfüllung von Vorgaben konkretisiere, sondern durch organische Mutationen des eigenen Systems.
Im Juli wurden in Berlin erste Konkretisierungsversuche unternommen, Anfang September beginnen die Proben in Richmond. Bis „Mutation“ nächstes Jahr in Deutschland aufgeführt wird, kann die Wucherung des Projekts im Internet verfolgt und erweitert werden. Oder ignoriert. CHRISTIANE KÜHL