Hauptsache, man denkt an Jean Seberg

Lidokino (8): Bruno Dumont wird in Venedig als Provokateur gehandelt und ausgebuht, Bernardo Bertolucci wird dagegen gefeiert. Fair ist das nicht

Kaum je kommt ein Festival ohne den Film aus, der nach neuen Maßstäben für die Darstellung des Sexuellen sucht. Meist eilt diesem Film der entsprechende Ruf voraus, und das stimmt skeptisch. Ein kalkulierter Tabubruch mag dem Regisseur zwar schnellen Ruhm und lautes Getöse einbringen – und wer weiß, vielleicht regt sich sogar die Kirche auf. Ästhetische Relevanz indes besitzt dies selten. Daher ist es für einen Film eher gefährlich, wenn er vorab als Tabubrecher einsortiert wird. Man ist versucht, ihm jenseits des Skandals nichts zuzutrauen.

In Cannes fällt der Part des Provokateurs in diesem Jahr an Bruno Dumont, der in „Twentynine Palms“ ein Paar in eine kalifornische Wüstenlandschaft schickt. Der Film findet seinen Rhythmus zwischen den statischen Totalen der Wüste und der bläulichen Kühle des Motelzimmers. David und Katia sind in der verlorenen Landschaft unterwegs, sie haben Sex, sie streiten sich, sie essen, sie schlafen. Von Anfang an ist etwas aus den Fugen, ohne dass man sagen könnte, was. Dumonts Blick auf die Sexualität der Figuren gibt dem Akt eine vorzivilisatorische Note, allein schon, weil Katia und David Geräusche ausstoßen, die sie in die Nähe des Tieres rücken. Und immer geht es eine Spur zu gewalttätig zu. Irgendwann fließt Blut – doch mit den Schauwerten der Exploitation hat das nichts zu tun, eher mit einem kalten Blick auf die Grausamkeit der menschlichen Natur. Das Publikum lachte und klatschte mit jedem Orgasmus der Figuren; am Ende buhte es lang.

Fair ist das nicht. Denn Dumont hat einen außergewöhnlichen Film gemacht. Man muss sein Welt- und Menschenbild nicht teilen, um das zu bemerken, muss nicht der Überzeugung sein, dass in der Wüste der Mensch dem Menschen zum Wolf wird oder dass das Schicksal so rasch über ihn herfällt, als hätten es unbarmherzige Götter beim Würfelspielen so beschlossen. Man kann sogar daran zweifeln, ob Dumonts offenkundiges Bedürfnis, sein Publikum zu verstören, als Haltung legitim ist. Aber das ist es ja, was „Twentynine Palms“ so besonders macht: dass der Film eine überzeugende Form für eine Position findet, die einem fremd ist.

Bernardo Bertolucci kann da nicht mithalten. Sein Film „The Dreamers“ wandert auf ähnlichen Pfaden wie „Twentynine Palms“, insofern auch er von zerstörerischen Leidenschaften handelt. Als Hintergrund für die inzestuöse Menage à trois seiner jungen Helden wählt er das Jahr 1968. „The Dreamers“ ist reich an Reminiszenzen an die Filmgeschichte im Allgemeinen und die Nouvelle Vague im Besonderen. Isabelle, die weibliche Hauptfigur (Eva Green), sagt einmal, dass sie 1959 auf den Champs-Élysées zur Welt gekommen sei. Dann ruft sie: „Herald Tribune, Herald Tribune!“, und schon sieht man Jean Seberg, wie sie in „Außer Atem“ über den Pariser Boulevard streift. „The Dreamers“ bietet also viele Gelegenheiten, heiteres Filmeraten zu spielen, und wenn dazu noch die hübschen Körper der Protagonisten verwegene Dinge auf dem Küchenfußboden tun, dann ist das Publikum hingerissen. Nach der Vorführung in der Sala Grande wurde zehn Minuten lang geklatscht, und die Rezensionen überschlagen sich vor Freude.

Welchen Sinn aber hat es, wenn die Anspielung nur den Zweck hat, denen zu schmeicheln, die sie erkennen? Bisweilen verhält es sich sogar so, dass sich das Zitat gegen „The Dreamers“ richtet, sobald man der von ihm gelegten Spur bis ans Ende folgt. Einmal zum Beispiel tischt Isabelle verbranntes Ratatouille auf. Ihr Geliebter Matthew (Michael Pitt) schiebt sich einen Löffel davon in den Mund, und wer Pasolinis „Salo oder die 120 Tage von Sodom“ gesehen hat, erkennt die Szene. Der Unterschied – und damit die Fallhöhe – liegt darin, dass die Figuren bei Pasolini gezwungen werden, Exkremente zu essen. So sehr man sich auch gegen dieses Theater der Grausamkeit sträuben mag, so wenig kann man seine Relevanz leugnen. Pasolini ging es darum, den Faschismus zu erklären; dem alternden Regisseur Bernardo Bertolucci ist es vor allem um schwüle Fantasien zu tun. CRISTINA NORD