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Archiv-Artikel

Löchriges Sozialnetz Europa

Dem eng verflochtenen Binnenmarkt der Union steht ein Flickwerk uneinheitlicher sozialer Gesetzgebungen gegenüber – ohne Aussicht auf schnelle Angleichung. Das ist vor allem für Grenzgänger ein Problem. Europarlament fordert ihre Absicherung

aus Brüssel DANIELA WEINGÄRTNER

Die Fernsehnation staunte Dienstagabend bei Maischberger über „Florida-John“, der im sonnigen Süden der USA bei erhöhtem Sozialhilfesatz von deutscher Unterstützung lebt. Sozialministerin Ulla Schmidt (SPD) will seinetwegen die Sozialgesetzgebung ändern. Die EU-Abgeordneten in Straßburg befassten sich mit dem gleichen Thema.

Die Frage, ob es unmoralisch ist, deutsche Stütze an der Costa del Sol oder in der Provence zu genießen, spielte aber nur am Rande eine Rolle. Denn in dem Thema steckt mehr als eine süffige Schlagzeile. Es betrifft jeden Studenten im Auslandssemester, jeden Jobsuchenden, der sich im Nachbarland bewirbt, jede Rentnerin auf Mallorca. Für sie alle gilt die Verordnung 1408/71, auch Wanderarbeiter-Verordnung genannt, die aus dem Jahr 1971 stammt und etwas angestaubt ist.

Am Dienstag berieten die Abgeordneten in erster Lesung über einen Vorschlag der Kommission, die das unübersichtlich gewordene Werk modernen mobilen Zeiten anpassen will. Einigkeit besteht, dass die freie Arbeitsplatzwahl innerhalb der EU, eine der vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes, auch sozial abgesichert sein muss. Während allerdings die grüne Berichterstatterin auf dem Weg über die neue Verordnung gern soziale Standards in Europa angleichen würde, wollen die Konservativen genau das verhindern.

Das Dilemma zieht sich quer durch die EU-Politik: Ein sehr eng verflochtener Binnenmarkt steht einem Flickenteppich nationaler Steuer- und Sozialgesetze gegenüber. Wer von einem Mitgliedsland ins andere umzieht, droht durchs soziale Netz zu fallen. Behinderte können Sozialansprüche verlieren. Arbeitslose erhalten vom Heimatland kein Arbeitslosengeld mehr. Erst vor kurzem hat der Europäische Gerichtshof festgestellt, dass deutsche Krankenkassen zahlen müssen, wenn man in einem anderen Mitgliedstaat zum Arzt geht. Doch in der Praxis ist das Urteil noch nicht umgesetzt.

„Ich habe Schwierigkeiten, einer 62-jährigen Frau, die bei Volvo auf der anderen Seite der Grenze arbeitet, zu erklären, dass sie in Holland erst ab 65 Rente bekommt, während Frauen bei uns in Belgien mit 62 Jahren in Ruhestand gehen“, klagte die liberale Abgeordnete Johanne Boogerd-Quaak. Der italienische Konservative Carlo Fatuzzo sagte: „Viele Pensionäre leben in prekären Umständen, weil sie ihren Lebensabend in einem anderen Mitgliedsland verbringen – das muss geändert werden!“ Die dänische Abgeordnete Anne Elisabet Jensen erinnerte daran, dass viele Probleme durch die unvereinbaren Sozialsysteme entstehen. In Dänemark würden die Sozialleistungen aus Steuern finanziert, in Deutschland nach dem Kassenprinzip: Wer sein Berufsleben lang in einen Topf gezahlt hat, erwirbt das Recht auf bestimmte Leistungen. Ein Deutscher, der in Dänemark arbeitet, zahlt dort hohe Steuern. Will er den Lebensabend zu Hause verbringen, hat er keinen Rentenanspruch, obwohl er im Nachbarland seinen Beitrag geleistet hat.

Auch dem Laien leuchtet ein, dass die Vorsorge für Grenzgänger, die in der Debatte als „Europäer par excellence“ gelobt wurden, Stückwerk bleiben muss. Kein Wunder also, dass die Fachminister der Mitgliedstaaten seit viereinhalb Jahren zu keiner Entscheidung kommen. Mit der ersten Abstimmung gestern dann hat das Parlament, das in dieser Frage mit entscheidet, ein Signal gesetzt: Die Traditionen in den nationalen Sozialsystemen sollen nicht angetastet werden. Gleichzeitig muss die EU dafür sorgen, dass Arbeitnehmern, die den gemeinsamen Arbeitsmarkt nutzen, in ihrer sozialen Sicherheit keine Nachteile entstehen.