: Ein Zuhause auf Zeit
In Notunterkünften ist es eng. Viele Obdachlose schlafen lieber auf Dachböden oder in leeren Häusern. So retten sie sich ein Stück Privatsphäre. Ein Tag mit Flaschen-Lothar und dem Junkie Moppi
VON ANTJE LANG-LENDORFF UND CHRISTO FÖRSTER
Das Foto mit dem Bundespräsidenten ist sein ganzer Stolz. In einer klebrigen Klarsichthülle trägt er es immer bei sich, zusammen mit dem Artikel, der damals in der Zeitung erschien. Johannes Rau war an jenem Novembertag in der Notunterkunft Moabit zu Gast und gab Essen an Obdachlose aus. „Guten Abend, Herr Weizsäcker“, hat Lothar ihn begrüßt. Eine Anekdote, die auch nach über zwei Jahren noch gut ankommt bei den Leuten.
Lothar sitzt auf einer Bank in der Simon-Dach-Straße. Ungeschickt quetscht er etwas Leberwurst aus der Hülle auf eine Scheibe Brot. Es ist Vormittag und die Grundlage für jede feste Nahrungsaufnahme – zwei, drei Flaschen Bier – längst bereitet. Seit kurz vor neun ist Lothar unterwegs, das hat er penibel notiert. Ein schmaler Schreibblock dient dem Wohnungslosen als Logbuch seines geistigen Durcheinanders, hier vermerkt er säuberlich Schlafplätze, Straßenbahnfahrten und Geldstände.
„Revaler Straße 6“. Hier hat Lothar wie meistens die Nacht verbracht. Das Haus steht fast komplett leer, ganz oben auf einer großzügige Dachterrasse liegen ein paar Matratzen. Die S-Bahn-Gleise und dahinter Kreuzberg liegen Lothar des Nachts zu Füßen. „Das ist mein Reich.“ Lothar lehnt sich zufrieden zurück.
Wie viele Obdachlose in Berlin leben, kann niemand genau sagen. Der Senat geht von 2.000 bis 4.000 aus. Diese Bettenzahl steht insgesamt, von der Kältehilfe bis zur Motz-Unterkunft, zur Verfügung. Doch Lothar geht nur im Winter zur Stadtmission nach Moabit. Eine Isomatte neben der anderen, das sei nichts für ihn: „Da ist mir zu schlechtes Publikum.“ Viele Obdachlose suchen sich lieber eine Bleibe in einem leer stehenden Gebäude, auf Dachböden oder auf dem obersten Treppenabsatz von bewohnten Mietshäusern. Hier müssen sie sich den Raum nicht mit anderen teilen. So retten sie sich ein letztes Stück Privatsphäre. Ein Zuhause auf Zeit.
Lothar ist im Kiez bekannt. Er sammelt Leergut und kauft damit neues Bier. Flaschen-Lothar wird er daher genannt. Sozialhilfe beziehen kann er nicht, weil er keinen Wohnsitz hat. Klauen will er nicht – „aus Prinzip“. Die Leute vom Kulturzentrum gegenüber schätzen das. Man könne alles herumliegen lassen, bei Lothar komme nie etwas weg. Umso hartnäckiger ist er beim Schnorren. Kauft man ihm etwas zu essen, fragt er sofort: „Und für später, haste da noch ’n Euro?“
Moppi würde dafür Passanten die Obdachlosenzeitung Motz geben. Die verkauft der Junkie am S-Bahnhof Frankfurter Allee. Seine Augen blicken ins Leere, so betrunken ist er. Einmal ist seine Tante vorbeigekommen – er hat sie nicht erkannt. Seine Mutter hat ihm das erzählt.
Ob man mit ihm sprechen kann? „Ich hab so wenig Zeit“, sagt er. „Ich brauch Knete wegen Drogen.“ Moppi ist 33. Seit sieben Jahren spritzt er Heroin. Um die 130 Euro benötigt er am Tag. Deswegen ist er ständig unterwegs, verkauft Zeitungen, klaut in Supermärkten und verscherbelt die Sachen an Kioskhändler. Nur sonntags hat er frei. Dann bekommt er von seinem Dealer ein bisschen Stoff umsonst. Ein Dankeschön für den Stammkunden.
Am frühen Nachmittag ist Moppis Blick schon wieder klarer. Beinahe nüchtern sieht er tatsächlich ein wenig so aus wie der Hund aus dem DDR-Fernsehen, dem er seinen Spitznamen verdankt. Früher war er Punk. Aber mit einem Irokesenschnitt verkauft man weniger Zeitungen, deshalb zieht er sich jetzt ganz normal an. Der Kapuzenpulli verdeckt die vielen blauen Flecken und offenen Stellen vom jahrelangen Fixen.
Aufgewachsen ist er im Südosten Berlins. Seine Mutter ist Lehrerin, sein Vater Direktor einer Schule. Er stritt sich oft mit seinen Eltern, als er klein war, erzählt er. Mit zwölf wurde er als suchtgefährdet eingestuft, weil er Alkohol trank. Er ging auf Punk-Konzerte in Kirchen, fühlte sich als Teil der Opposition in der DDR. Er schloss die zehnte Klasse ab und machte eine Ausbildung zum Maurer.
Mit der Wende verschwand für Moppi und seine Freunde das gemeinsame Feindbild, die DDR. Punk sein bedeutete jetzt nicht mehr politische Rebellion, sondern nur noch Spaß, Alkohol und Drogen. Seine Freundin, mit der er 11 Jahre zusammen gewesen war, trennte sich von ihm – „auch wegen der Trinkerei“. Im Frust begann er, regelmäßig Heroin zu spritzen. Eine Umschulung brach er ab wegen der Sucht. Er zahlte seine Miete nicht mehr, flog aus der Wohnung – seither schläft er draußen. Anders als Lothar, der auf seiner Terrasse auch Müll anhäuft, verwischt Moppi alle Spuren an einem Schlafplatz. Er hat Angst, dass das Haus sonst zugeschlossen wird.
Viele von Moppis alten Punk-Kumpels sind an einer Überdosis oder an Krankheiten gestorben. „Ich hab keine Angst mehr vor dem Tod“, sagt er müde. Sterben sei beinahe normal geworden, denkbar auch für ihn selbst. „Sonst würde ich ja nicht weiter Drogen nehmen.“ Für einen Ausstieg fehlt ihm der Wille. „Warum sollte das, was nach einem Entzug kommt, besser sein?“
Zu seinen Eltern hat er gelegentlich Kontakt. Sie wissen, dass er abhängig ist und haben sich bei einer Beratungsstelle über Heroinsucht informiert. Sie wollen ihm helfen, eine Wohnung anmieten. Moppi sagt, dafür sei er zu stolz. Dabei verabscheut er das Leben auf der Straße, die Unsicherheit, die Kälte, den Dreck. Früher hat Moppi im Badezimmer gefixt, wenn er zu Hause war. Seit seine Eltern von der Sucht wissen, spritzt er auch vor ihren Augen. Sie haben Angst, dass ihm im abgeschlossenen Bad sonst etwas zustößt. Seine Mutter weint ständig. Moppi kann das verstehen. „Ich wollte auch nicht daneben sitzen, wenn sich mein eigener Sohn einen Schuss setzt.“
Das größte Problem der meisten Wohnungslosen ist die Sucht. Christian Linde, Mitbegründer der Motz, ist daher der Meinung, dass die Suchthilfe besser mit der Obdachlosenunterstützung verbunden werden muss. Das sei auch das Ziel der Sozialverwaltung, sagt eine Sprecherin von Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner (PDS). Konkrete Pläne dafür gibt es aber offenbar nicht. Jedenfalls kann die Sprecherin nichts Genaueres sagen.
Mittlerweile ist es Abend, Lothar ist noch besser gelaunt als am Morgen. Mit fortschreitender Tageszeit hat sich auch sein Bierkonsum erhöht. Mit einem Kumpel steht er vor seinem Stammkiosk. Die beiden amüsieren sich über ihre eigenen Witze. „Wer hat denn hier ein Taxi bestellt“, fragt Lothar laut, als eine Polizeistreife vorüberfährt, und kann sich vor Lachen kaum halten.
Natürlich schafft die Trinkerei immer wieder Probleme. Ihretwegen hat Lothar in den 80er-Jahren seinen Job bei der kommunalen Wohnungsverwaltung verloren und musste auf dem Rummel an der Kasse eines Kinderkarussells arbeiten. Nach der Wende machte der Jahrmarkt dicht, seitdem lebt Lothar auf der Straße. Das sieht man ihm an. Sein Gesicht ist rot und mit Pusteln übersäht, der Gang schleppend. Obwohl Lothar erst 45 ist, wirkt er wie ein alter Mann. Lothar sagt, er habe Leukämie. Deswegen sei er auch so lange ohne Freundin, „wegen der Ansteckungsgefahr“. Seine Gedanken sind manchmal wirr – übertragbar ist die Krankheit nicht.
Während Lothar mit gläsernem Blick einem Mädchen hinterherschaut, greift sein Kumpel nach einer der Plastiktüten am Boden. Sofort ist Lothar hellwach. Es dauert, bis sie sich geeinigt haben, wem welche Tüte gehört und wie viele Flaschen darin waren. Schließlich trennen sich ihre Wege. „Der hat mir ’n Bier geklaut“, murmelt Lothar.
„Feierabend“, ruft jemand aus dem Kiosk und Lothar weiß, dass langsam Schlafenszeit ist. Er kauft noch zwei Flaschen. „Schnell, schnell, gleich is’ zu“, treibt er die letzten Kunden zur Eile. „Unser Türsteher“, sagt der türkische Verkäufer liebevoll.
Lothar macht sich auf den Weg zu seiner Dachterrasse. Doch die Eingangstür ist abgeschlossen. Minutenlang steht er einfach nur da, wortlos, ohne sich zu bewegen. „Morgen ist bestimmt wieder offen“, sagt er dann und geht zur Tram Richtung Prenzlauer Berg. Dort hat er noch einen Schlafplatz. Auch wenn er lieber hier ist, in seinem vertrauten Kiez. Die Revaler 6 wird zubleiben. Ein neuer Besitzer will das Haus renovieren lassen. Es wird noch eine Weile dauern, bis Lothar versteht, dass sein kleines Reich über den Dächern Berlins Vergangenheit ist.
Mit einem Tag der offenen Tür feiert die Berliner Stadtmission heute 25 Jahre Obdachlosenhilfe. Von 13 bis 17 Uhr präsentieren die Helfer ihre Arbeit und ein Unterhaltungsprogramm an der Levetzowstraße 12a