das letzte rätsel der menschheit von ILKE S. PRICK
:

Gisela sucht ihren Autoschlüssel. Selbstverständlich sucht sie ihren Autoschlüssel. Das macht sie immer. Auf dem Hinweg einen Parkplatz, auf dem Rückweg den Schlüssel. Matilde verdreht die Augen und nimmt sich Giselas Handtasche vor. Wobei es leicht vermessen ist, diese Art von Koffer mit Schultergurt als Handtasche zu bezeichnen. Sie versucht es mit Schütteln, ein Ohr am Leder. Man dringt ja nicht so mir nix, dir nix in das Allerheiligste fremder Leute ein. „Hört sich nicht nach Schlüssel an“, stellt sie fest. „Hast du’s schon mit den Jackentaschen probiert?“ Gisela nickt verzweifelt, und nun folgt das Übliche. Zipp macht es und klingklong, und dann landet der Inhalt von Giselas tragbarem Wohnmobil auf dem Küchentisch.

In allen Kulturen gibt es Stammesfeste mit den immer gleichen, wiederkehrenden Riten. Es gibt Initiationsfeste mit Körperbemalung, Feiern in Menstruationshütten, es gibt Vorhautbeschneidung. Und es ist gibt diese lauschigen Abende mit Freundinnen, die auch sehr eigene Rituale haben.

„Igitt“, quietscht Matilde angeekelt, als sie, mit einer Hand auf dem Taschenboden fummelnd, in ein glitschiges Bonbon greift. „Klebt das hier etwa noch vom letzten Mal?“ Gisela kann nicht kontern, denn Sylvia kreischt: „O, pink, ich wusste gar nicht, dass du so was trägst.“ Ein Lipgloss mit Glitzerpigmenten kullert über den Tisch. „Tu ich auch nicht“, mault Gisela und durchsucht noch mal ihre Jacke. Dass sie den Lipgloss in den dunklen Tiefen ihrer Tasche versenkt hat, ist auch besser so, denn die momentane Farbe ihrer Wangen würde sich ziemlich mit dem Pink beißen. Vielleicht kommt das mit ihrer Schamröte aber nur daher, dass gerade die Kinokarte von „Der letzte Samurai“ auf den Tisch flattert. Dabei waren wir doch alle übereingekommen, dass man sich Tom Cruise nur geknebelt und mit Handschellen anschauen kann. Komisch.

Amerika ist entdeckt, Madagaskar von der Pest befreit, Papua Neuguinea psychoanalytisch durchleuchtet. Der einzige Kontinent, den es noch zu erforschen gilt, ist der Kontinent der Damenhandtaschen. Tempos, Tampons, Taschenmesser – absolut nützlich, na klar! Aber: Käsebrote jenseits des Haltbarkeitsdatums, Netzstrumpfsöckchen mit Laufmaschen, Telefonnummern von Leuten, die man niemals kennen gelernt hat, der Spielplan des Landestheaters Castrop-Rauxel, Mai 2003 … Welch magische Bedeutung mögen all diese Dinge haben? Es gibt Routenplaner im Internet und Navigationssysteme fürs Auto. Doch was nützt das, wenn man nicht mal den Autoschlüssel findet, weil nichts durch die Wirren der eigenen Tasche führt?

„Ich hab ihn!“, ruft Sylvia vom Flur. Matilde und ich seufzen erleichtert. „Er hängt an der Klinke, hier an der Wohnungstür. Hast du ja auch gesagt, als du gekommen bist. Du hängst ihn da hin, damit du ihn nachher gleich findest.“ Ja, das hatte sie gesagt. Stimmt. Ich stand daneben. Aber das war vor dem Wein. Wir ziehen unsere Jacken an, endlich kann es losgehen.

„Sagt mal“, druckst Gisela, als wir uns durchs Treppenhaus schleichen, „könnt ihr euch vielleicht daran erinnern, wo ich vorhin den Wagen geparkt habe?“