Systemkritik gescheitert

„Weltraum als Fluchtlinie“: die Ausstellung des Wolfsburger Kunstvereins trägt ihren Anspruch schon im Titel. Er soll auf französischen Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari verweisen, die in Post-68er-Befreiungsrhetorik mit der „Fluchtlinie“ eine Handhabe meinten, das „Territorium“ zu verlassen – jenes lineare, zielgerichtete System, in dem Subjektivität, kraft Repression auf ein „Es“ reduziert, perfekt die kapitalistische Konsumgesellschaft am Leben erhält. Wünsche bleiben die einzige Instanz, sich der totalen Vereinnahmung zu entziehen – auch wenn sie, systembedingt stets unerfüllbar, auf individuelle Konstellationen zurückverwiesen werden.

Persönliche Weltraum-Fantasien sind es auch, die den Besucher in der Ausstellung erwarten. Raumgreifend gleich am Eingang das Objekt „American Sandwich“ des Berliners Armin Keller, der einen mexikanischen Bastelbogen aus den 1950er Jahren für eine Spielzeugrakete vergrößert hat. Seine Rakete ist aus alten Pappkartons zusammenfügt und sogar beleuchtet. Keller liefert damit seine Version eines für alle erschwinglichen Weltraumfahrzeugs.

Ironie darf wohl auch hinter der Videoarbeit „First Woman on the Moon“ der Amerikanerin Aleksandra Mir vermutet werden. Sie hinterfragt den Wahrheitsgehalt der weltbekannten Bilder der ersten Mondlandung, indem sie eine solche, in der Kunstform des Reenactment, mit weiblichen Protagonisten in einer niederländischen Dünenlandschaft nachstellt.

Bierernst hingegen kommt die Computerinstallation des deutschen Feministinnenduos Mars Patent daher. Durch ein virtuelles Ausstellungsprojekt auf dem roten Planeten, an dem sich nur Frauen beteiligen dürfen, beabsichtigen sie, den irdisch-patriarchalen Kunstbetrieb zu unterlaufen.

Die japanische Verwandlungskünstlerin Mariko Mori ist mit einer älteren Videoarbeit vertreten. Mit Pop-ästhetischen Klischees des Science Fiction – ein futuristisches Outfit, die Augen verspiegelnde Kontaktlinsen, eine mysteriöse Schusterkugel in den Händen rollend – stilisiert sie sich zu einer Außerirdischen von irisierender Schönheit, die just in einer Flughafenhalle gestrandet ist.

Sicherlich sind derzeit Spekulationen über ein zukünftiges Leben im Weltall und dessen Organisationsformen gefragt. Und natürlich ist eine fortschrittsgläubige Stadt wie Wolfsburg ein nicht uncharmanter Ausgangspunkt für derartige Eskapaden. Doch es scheint, als könne die bildende Kunst gesellschaftliche Divergenzen und Utopien bestenfalls unterhaltsam visualisieren – eine systemkritische Relevanz sollte man ihr also gar nicht erst aufbürden.

BETTINA MARIA BROSOWSKY

Bis 26. April im Kunstverein Wolfsburg. Mi – Fr 10 – 17 Uhr, Sa 13 – 18 Uhr, So 11 – 18 Uhr