: Gesamtkunstwerk vor Gericht
Berliner Verfassungrichter verhandeln über Haushalt 2002/2003. Urteil am 31. Oktober. Opposition darf schon mal ein Rezept für die Zukunft wünschen, Finanzsenator droht mit Kürzungen bei Justiz
von STEFAN ALBERTI
Berechnungen zu Auswirkungen auf die Konjunktur? Nein, die habe es nicht gegeben. Michael Kloepfer, Rechtsprofessor an der Humboldt-Uni, grinst noch auf dem Weg zur Gerichtskantine. Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) bleibe mit seiner Ehrlichkeit doch der beste Mann für CDU, FDP und Grüne, für die Kloepfer an diesem Morgen gegen den Haushalt 2002/2003 streitet. Den hält die Opposition für verfassungswidrig, vor einem Jahr reichte sie Klage ein, jetzt verhandelt das Berliner Verfassungsgericht. Im Mittelpunkt: Die Frage, ob eine „Störung des wirtschaftlichen Gleichgewichts“ vorliegt. Damit begründet der Senat, dass in eigentlich rechtswidriger Form Kredite die Investitionen übersteigen.
Genauso offen wie er fehlende Berechnungen zugibt, nannte Sarrazin im Juni 2002 den Haushalt „eindeutig rechtswidrig“. Das bestritt er auch gestern nicht. Er relativierte aber. Seine Aussage habe klar machen sollen, dass die Diskussion an den realen Problemen vorbei gehe.
Entspannt gibt er sich, als er in den Verhandlungsraum 240 kommt. Ein schicker Saal sei das, sagt er, und wenn man ihm übel wollte, wäre das ein Fettnäpfchen, weil dort 1944/45 der berüchtigte Volksgerichtshof tagte. Sat.1-Gucker kennen das Haus, das bis kürzlich montagsabends Schauplatz der Anwaltserie „Edel & Starck“ war. Ob es wie dabei auch für Sarrazin und die rot-rote Haushaltspolitik ein happy end gibt, entscheidet sich erst im Urteil am 31. Oktober.
Gestern wollte das Gericht unter anderem schlicht wissen: Welche konkreten Maßnahmen hat der Senat geplant, um mit den höheren Krediten der angeblichen Störung zu begegnen, also dem stagnierenden Wirtschaftswachstum und der Arbeitslosigkeit. Einfacher gesagt: Wo sind sie hin, die zusammen fast elf Milliarden Kredite für 2002/03?
Sarrazin – der gerade einen Abteilungsleiter mit „überzeugender und verständlicher Argumentationsführung“ sucht – antwortet wenig überzeugend allgemein, spricht kryptisch von einer „Kontinuität des Ausgabenabbbaus“. Wie gut für den Senator, dass da noch ein blonder Mann Anfang 50 neben ihm sitzt. Joachim Wieland, Finanz- und Steuerrechtsprofessor, der Prozessbevollmächtigte des Senats. Der Mann, der Bremen 1992 am Bundesverfassungsgericht zu Milliarden verhalf, gleiches für Berlin schaffen, hier aber erst mal den Haushalt retten soll.
Der sagt schön blumig, dass ein Haushalt ein Gesamtkunstwerk sei, aus dem sich nicht Einzelpunkte herausgreifen und als die eigentlich konjunkturrettenden Maßnahmen bezeichnen ließen. Die Kläger kontert er schon vorher ab. Es sei doch verwunderlich, dass genau jene CDU nun einen Haushalt als nicht verfassungsgemäß erklären lassen will, die in eigener Regierungszeit ein Missverhältnis zwischen Krediten und Investitionen tolerierte. Dass unter den klagenden CDU-Abgeordneten genau jener Peter Kurth sei, der als Finanzsenator 2001 ebenfalls mit einer wirtschaftlichen Störung argumentiert habe.
Wie sich denn die Beteiligten die Folgen vorstellen, falls man der Klage folgt, fragt das Gericht abschließend nach fast vierstündiger Verhandlung. Oppositionsvertreter Kloepfer rudert da zurück: Bitte nicht den Haushalt komplett für nichtig erklären – unpraktikabel sei eine Rückabwicklung. Auch von einer Sperre ab Urteil hält er nicht viel. Für schlicht verfassungswidrig sollen die Richter den Haushalt erklären und ein „Rezept für die Zukunft“ beifügen. Denn die Politik sei „zu einem nicht unerheblichen Teil“ nicht in der Lage, sich selbst zu helfen. „Dann kann auch der Haushalt 2004/05 nicht so beschlossen werden, wie er jetzt vorliegt“, sagt Grünen-Abgeordneter Jochen Esser.
Sarrazin winkt für den Fall eines solchen Urteils mit dem Zaunpfahl: Da müsse er dann auch der Kollegin Justizsenatorin schreiben, dass es keine Neueinstellungen im Justizbereich gibt.