piwik no script img

Stell dir vor, es ist kulturkrieg …

… und keiner geht hin: Im feuilleton der „welt“ wird die rationale debatte um die rechtschreibreform flugs zum kulturkampf zwischen linken und rechten umgeschrieben

Die Welt gibt sich, anders Bild, zur rechtschreibdebatte immerhin noch den anschein von journalistischer neutralität. Wenigstens im politikteil. Umso mehr lässt der kommentar des feuilleton-redakteurs Berthold Seewald (Welt vom 10. 8.) aufhorchen. Darin macht er aus den urhebern der rechtschreibreform ein informelles konglomerat von linken linguisten und germanisten. Diese sollen nach 1968 das interesse an literatur verloren und sich stattdessen nur noch mit den „sozialen bedingtheiten der syntax“ (sic!) auseinander gesetzt haben. So entwickelten sie ihr heimliches großprojekt: die rechtschreibreform! Dem nun boten konservative kulturkritiker mutig die stirn.

Wörtlich: „Doch gerade weil so viele forscher sich der rechtschreibreform verschrieben, festigten sie nur die front derer, die sie attackierten. Diese kritiker fassten den schwelenden unmut der bevölkerung in worte.“

Seewald schießt ganz offensichtlich am ziel vorbei. Die reform war als vereinfachung der schriftlichen sprache gedacht, nicht etwa als linkes, emanzipatorisches projekt. Die anpassung der orthografie an die fonetik (beispielsweise beim doppelkonsonant nach kurzem vokal) sollte schülern und lehrern das leben erleichtern und hat dies, wie man weiß, oft auch getan.

Dennoch wäre es falsch, seinen kommentar einfach als unsinn abzutun. Offensichtlich artikuliert er die hoffnung eines konservativen kulturkritikers, seinesgleichen befände sich im gesellschaftlichen aufwind. Die assoziation von rechtschreibreform und linker theorie muss als taktischer zug gelesen werden. Just in dem moment, in dem ein putsch der bosse der mächtigsten verlagshäuser im land die reform ins wanken bringt, wird dieselbe als lieblingsprojekt der linken verkauft.

So erklärt Seewald einen kulturkrieg: Auf der einen seite ein hoffnungsloser haufen von spinnerten sprach- und geisteswissenschaftlern, die die sprachliche feingefühle des volks beleidigen. Auf der anderen seite die aufrechten verteidiger der leitkultur, die sich gestärkt durch die anfeuernden zurufe von vox populi ins Gefecht stürzen. Alle rationalen und pragmatischen kritiker der mängel der rechtschreibreform sollen so mit in ein boot geholt werden, das unter reaktionärer fahne gegen die feuilletonistische und akademische linke segelt. GUIDO KIRSTEN

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen