: Witwe ohne Totenschein
Ein makabres Picknick: Vor einer stillgelegten Kupfermine westlich von Santiago wartet eine Frau Tag für Tag, dass Gerichtsmediziner die Überreste ihres 1976 spurlos verschwundenen Mannes bergen. Hier soll er verscharrt sein, haben seine Mörder angegeben
von HEIKE HAARHOFF
April 2001. Dort, wo Abelina Marihuán ihren Mann vermutet, haben ihre Kinder eine Holzbank aufgestellt, um ihr die Wartezeit zu erleichtern. Den ganzen Sommer hat sie hier oben verbracht in den heißen, kahlen Bergen der Cordillera. Tag für Tag, von Januar bis April, vierzig Autominuten mittags hin, von Santiago über die Ausfallstraße Richtung Westen hinein in die Einöde von Cuesta Barriga, abends sechzig Minuten zurück im Stau. Mal mit ihren Enkelinnen, mal mit ihren Kindern, mal mit den Angehörigen der anderen fünf Funktionäre der Kommunistischen Partei Chiles. Seit Jahresbeginn sind Archäologen und Gerichtsmediziner in der stillgelegten Kupfermine beschäftigt, nach deren Überresten zu graben.
Abelina Marihuán rückt ihren Faltenrock zurecht, holt eine Plastikflasche aus ihrem Picknickkorb und verteilt Gläser mit Pisco Sour, dem chilenischen Nationalgetränk aus Traubenschnaps, Zitronensaft und Zucker. „Es ist schon fast ein Ritual“, sagt sie. Es könne nur noch ein paar Tage dauern, bis sie auf das Wiedersehen mit ihrem Mann Héctor Veliz oder besser: dessen Überresten anstoßen werden. Nach 25 Jahren der Ungewissheit! Angesichts dieser Vorfreude wird man sich ja wohl mal ein Gläschen genehmigen dürfen.
Dezember 2002. Catalina dreht eine Pirouette in ihrem frisch gestärkten Tüllkleid. Es ist Samstagnachmittag, und die ganze Familie Veliz, mehr als zwanzig Personen, trudelt nach und nach ein bei Catalinas Großmutter Abelina Marihuán im Stadtteil Reinca, einem Arbeiterviertel am Rand von Santiago, wo die einfachen Häuser ein Stockwerk hoch sind und viele Dächer aus Wellblech. Catalina ist dreizehn. „Wir fahren gleich alle zu einer Hochzeit“, sagt sie, „wir haben dafür extra einen Bus gemietet.“ Das Brautpaar feiert in einem Dorf nahe Cuesta Barriga. „Aber zur Mine gehen wir nicht, glaub ich“, sagt Catalina und sieht ihre Großmutter fragend an, „zur Mine gehen wir schon ganz lange nicht mehr.“ „Nein“, bestätigt Abelina Marihuán, „zur Mine gehen wir nicht.“
Zur Mine. Sie sagt das wirklich so. Müht sich um einen neutralen Ton in der Stimme. Noch vor eineinhalb Jahren war die Mine für sie nur „das Grab“. Und wenn sie vom „Grab“ redete, klang das manchmal beinahe glücklich. Endlich hatte sie ihren Mann wiedergefunden. Hatte sie geglaubt. „Ach“, sagt sie jetzt leise, und in diesem Ach schwingt so gar nichts mit von dem, was man jetzt vermuten könnte, was doch mitschwingen müsste, Enttäuschung vielleicht, Wut, Bitternis, Aufbegehren, Zorn, Trauer. Ach, es ist einfach nur eine weitere Niederlage.
Fast zwei Jahre zuvor, im Januar 2001, hatten die Militärs angegeben, dass sie sich im Dezember 1976 unter anderen der Leiche Hector Veliz’ in der Mine entledigt hätten. Zum ersten Mal hatten ehemalige Generäle zugegeben, dass es während des Militärregimes von Augusto Pinochet Verschwundene gegeben hatte und dass sie, die Militärs, an ihrem Verschwinden und Sterben Schuld trugen. Dieses Bekenntnis schien wie ein Meilenstein auf dem Weg zur Aufarbeitung der Geschichte zwischen 1973 und 1990.
Abelina Marihuán mahnt zum Aufbruch. Was bringt es, wieder und wieder über den Schmerz zu reden? Ihr Mann ist weiterhin nicht identifiziert. Dass der Bericht sich als Farce erweisen könnte, dass die Militärs sie erneut so demütigen könnten, hat sie vor eineinhalb Jahren nicht für möglich gehalten.
April 2001. „Wir erhielten den Anruf am 5. Januar. Die ganze Familie war aufgeregt. Wir hatten plötzlich wieder Hoffnung, ihn doch noch zu finden.“ Wenn auch nur als Skelett. Denn dass sie Héctor Veliz nicht lebend wiedersehen würde, hatte Abelina Marihuán bereits am Abend des 15. Dezember 1976 geahnt. „El Flaco“, der Dünne, wie sie ihren Mann nannte, hatte vormittags die Wohnung in Reinca verlassen und war abends nicht nach Hause zurückgekehrt. Es gab keinen Zweifel, was das bedeutete.
Aber eine Frau von 38 Jahren, die plötzlich mit vier Kindern allein dasteht, findet sich nicht einfach damit ab, dass angeblich niemand weiß, wo ihr Mann abgeblieben ist. Sie fragt bei den Kollegen, bei den Freunden, bei der Polizei. Nichts. Sie sucht in den Krankenhäusern, den Gefängnissen und später in den Leichenhallen. Sie liest in der Zeitung, ihr Mann, ein „kommunistischer Vaterlandsverräter“, sei mit seiner Geliebten nach Argentinien durchgebrannt. Sie bittet den Redakteur um Nennung seiner Quellen. Nichts. Sie glaubt, dass sie den Verstand verliert, aber auch das passiert nicht.
Und dann, ein Vierteljahrhundert später, als sie sich daran gewöhnt hat, eine Witwe ohne Totenschein zu sein, als sie sich dem Verband der Angehörigen der Verschwundenen angeschlossen und erfahren hat, dass tausende andere Familien ihr Schicksal teilen, als das Terrorregime zu Ende und der Diktator verhaftet und das Verbrechen nicht mehr zu leugnen zu sein scheint und der Druck auf die Militärs wächst, wählen die das für sie kleinere Übel: Sie erklären sich zur Teilnahme am „Tisch des Dialogs“ der Regierung bereit, diktieren die dortige Tagesordnung, lassen sich Straffreiheit zusichern und präsentieren nach sechsmonatiger armeeinterner Recherche am 5. Januar 2001 Namen, Verhaftungsdatum und Bestattungsort von gerade einmal zweihundert Verschwundenen, darunter: Héctor Veliz Ramírez.
Über die Art und Weise der Ermordung verweigern die Militärs die Auskunft ebenso wie über die Namen des verantwortlichen Tötungskommandos. Aber solange sie nur den Leichnam ihres Ehemanns bekommt, um ihn endlich begraben zu können, sieht Abelina Marihuán über vieles hinweg – auch wenn sie sagt: „Unsere Anliegen lassen sich nicht am Runden Tisch verhandeln, sondern nur vor Gericht.“
Ob es unbedingt ein internationales Gericht sein muss, wie sie immer gefordert hat, weiß sie plötzlich nicht mehr so genau, wie sie Tag um Tag in den Bergen von Cuesta Barriga sitzt und die Felsformationen auswendig lernt. Vielleicht schafft es die chilenische Justiz ja aus eigener Kraft. Immerhin den Diktator höchstselbst hat sie des Mordes und der Entführung angeklagt. Und nun, unter diesem Druck, beginnen seine Schergen zu reden. Erstmals seit langer Zeit lässt Abelina Marihuán wieder den Gedanken zu, dass es Gerechtigkeit vielleicht doch noch im Diesseits geben könnte. In dieser Stimmung pflanzt sie mit anderen Angehörigen sechs Laubbäume in Cuesta Barriga: für jeden im Dezember 1976 verschwundenen Kader der KP Chiles einen.
Sicher, ein Gericht im Ausland würde die Mörder ihres Mannes vermutlich härter verfolgen und bestrafen. Aber was wäre in diesem Fall mit den in Chile verbliebenen Soldaten, Offizieren, Generälen? Würden die nicht alles leugnen und verbreiten, es handele sich um eine große Lüge, eine internationale Verschwörung? Und gäbe es heute in Chile diese breite Öffentlichkeit, die zwar nicht an den Demonstrationen wider das Vergessen teilnimmt, dafür aber jedem das Wort verbietet, der es wagt, die Frauen der Verschwundenen weiterhin als „Kommunistenflittchen“ oder als „Schande der Nation“ zu bezeichnen? Muss sie diesen Fortschritt nicht begrüßen, selbst wenn ihre eigenen Nachbarn sie in 25 Jahren nicht ein einziges Mal gefragt haben, wo eigentlich ihr Mann ist? All diese Gedanken gehen Abelina Marihuán durch den Kopf in diesen vielen Tagen, die sie wartend und mit Pisco Sour auf ihrer Holzbank in Cuesta Barriga verbringt. Sie will als Erste informiert sein, sollte der Suchtrupp Neuigkeiten bringen.
Dezember 2002. Die Nachrichten werden von Monat zu Monat frustrierender. Der Bericht der Militärs erweist sich als lücken-, ja fehlerhaft. In dem angegebenen Minenschacht findet sich nicht ein Knochen. Die Militärs korrigieren sich. Die Gerichtsmediziner durchsuchen einen weiteren Schacht. Erst beim dritten werden sie fündig: einzelne Zähne, Knochensplitter. Doch kein einziges Skelett. Die Identifizierung der Toten ist damit unmöglich. DNA-Analysen sind nach so langer Zeit nur noch anhand größerer Knochenmengen verlässlich. Schließlich werden die Grabungsarbeiten bis auf Weiteres eingestellt. Abelina Marihuán wendet sich per Zeitungsanzeige und per Pressekonferenz erneut an die Militärs: Wer hat die Männer nach Cuesta Barriga gebracht? Wurde den Toten Dynamit in den Schacht hinterhergekippt? Niemand will sich erinnern, wieder einmal nicht.
„Nur wer sich eine Vorstellung machen kann, wie der verschwundene Mensch umgekommen ist – so grausam sein Tod gewesen sein mag –, kann mit dem Verlust abschließen und sich auf die eigene Zukunft konzentrieren“, sagt die Psychologin María Paz Rojas, die seit Jahren mit traumatisierten Opfern der chilenischen Diktatur arbeitet. Die Chancen hierfür stehen schlecht. Eineinhalb Jahre nach Vorlage des Militärberichts ist von den zweihundert eingestandenen Ermordeten eine Handvoll identifiziert. Die Täter kümmert das wenig. Seit das Verfahren gegen Pinochet im Juli 2001 aus gesundheitlichen Gründen eingestellt wurde, ist die Angst gewichen, sie könnten die nächsten auf der Anklagebank sein.
August 2003. Nein, sagt Abelina Marihuán, immer noch keine Neuigkeiten. Aber zum Bürgermeister von Cuesta Barriga habe sie Kontakt aufgenommen. Selbst wenn nie herausgefunden werden sollte, wem die Knochensplitter aus der Mine tatsächlich gehören – „Cuesta Barriga wäre meiner Ansicht nach als Gedenkstätte geeignet“. Sie klingt müde. Der Bürgermeister, berichtet sie, habe sich durchaus zugänglich gezeigt für ihre Idee. Aber er habe kein Geld für eine Gedenkstätte, nicht einmal für die Pflege der sechs Bäumchen. Die, sagt sie, seien mittlerweile fast vertrocknet.