: Events gegen den ruinierten Ruf
Eine Medienkampagne schädigte das Image der sächsischen Stadt Sebnitz nachhaltig. Nun versucht die Stadt mit Festen und Aktionen einen guten Eindruck bei Besuchern zu hinterlassen. Sebnitz setzt auf den Wirtschaftsfaktor Tourismus
von MARC GOERGEN und ALEXANDER KÜHN
Wer von Sebnitz erzählt, beginnt seine Geschichte mit dem 23. November 2000. Bis dahin war Sebnitz im Osten bekannt für seine Kunstblumen; im Westen indes nahm niemand Notiz von der kleinen Stadt in der Sächsischen Schweiz. Doch von jenem Donnerstag an kannte jeder Sebnitz – dank der Bild-Schlagzeile „Neonazis ertränken Kind. Und eine ganze Stadt hat es totgeschwiegen“. Mehr als hundert Reporter fielen in die Stadt ein. Deutschland trauerte mit den Eltern. Sebnitz stand am Pranger. Bereits nach wenigen Tagen stellte sich heraus: Diesen Mord hat es nie gegeben. Das kranke Herz des sechsjährigen Joseph Abdulla hatte im Schwimmbad seinen Dienst versagt, der Junge war ertrunken.
Josephs Mutter hatte den Journalisten eine Geschichte aufgetischt, die es so nur in ihrem Kopf gab. Aus Wut, Trauer, Verzweiflung – warum auch immer. Die Reporter zogen wieder ab. Was zurückblieb, war die Angst der Sebnitzer, ihre Stadt werde fortan in einem Atemzug genannt mit den Orten rechtsradikaler Verbrechen, mit Hoyerswerda, Solingen, Rostock-Lichtenhagen.
Und heute? Wer Sebnitzer nach jenen Novembertagen fragt, bekommt zu hören, das sei alles „kein Thema mehr“, „lange her“. „Da denken wir gar nicht mehr dran.“ Die Einzelhändler berichten anderes: Noch immer, so sagen sie, kommen Touristen in ihre Läden und wollen wissen, wo die Apotheke von Josephs Eltern steht. Dort, in der Rosenstraße 11, hatte das Ehepaar Abdulla damals pausenlos Interviews gegeben. Längst hat die Familie die Stadt verlassen. Wo die Abdullas heute wohnen, weiß man nicht. Dass sie noch mal einen Fuß nach Sebnitz setzen, glaubt hier niemand. An der Apotheke, einem grünen Fachwerkhaus, hängt noch immer das rote A, das Apothekenzeichen. Im Schaufenster werben sonnengebleichte Plakate für Schmerztabletten und ein Mittel gegen Blasenschwäche – doch das Gebäude steht leer. Neben der Tür klebt ein handgeschriebenes Schild: „Geschlossen“. Jeder, der nach der Apotheke fragt, wirft die Sebnitzer wieder zurück in ihrem Bemühen, den Deutschen zu zeigen, dass die Stadt mehr ist als ein Synonym für einen der größten Medienunfälle der vergangenen Jahre.
„Wir müssen versuchen, das Vertrauen der Menschen zurückzugewinnen“, sagt Fremdenverkehrschef Erik Beckert. „Das ist unsere Aufgabe, auch heute noch.“ Viele, so fürchtet er, hätten zwar die Anklage der Bild-Zeitung mitbekommen – nicht aber das Ende der Geschichte: die Unschuld der Sebnitzer. Um das zu ändern, darf Beckert tief in die Tasche greifen. Die Stadt hat ihr Marketing-Budget nach dem Fall Joseph enorm hochgeschraubt; für die Jahre 2001 bis 2003 hat die Landesregierung dafür insgesamt eine halbe Million Euro zur Verfügung gestellt. Anfang des Jahres hat Sebnitz mit 700.000 Broschüren in großen Tageszeitungen geworben.
Schon bald wird Sebnitz wieder in den Schlagzeilen sein. Diesmal positiv. Am ersten Septemberwochenende richtet die Stadt den Tag der Sachsen aus. Der soll ein Fest fürs Volk werden, mit Schlemmermeile, historischem Handwerkermarkt und Riesenrad. Sechshundert Vereine werden sich dann präsentieren, und als ostalgischer Höhepunkt soll die „Rose von Sebnitz“ wieder fahren: ein Bus, der, geschmückt mit einer Rose, zu DDR-Zeiten im Einsatz war. An die 200.000 Besucher sollen am Tag der Sachsen in die 10.000-Einwohner-Stadt einfallen. Die drei bewegten Tage vom 5. bis 7. September, so scheint es, sollen die Stadt entschädigen für den November 2000. „Wir brauchen uns nicht zu verstecken“, sagt Oberbürgermeister Mike Ruckh.
Und tatsächlich wirkt Sebnitz wie eine herausgeputzte Kleinstadt im Sonntagskleid. Am Marktplatz leuchten frisch gestrichene Fassaden, auf der Postmeilensäule, einem zwei Meter hohen Obelisken, sind die Entfernungen zu den Nachbarorten eingemeißelt. In einem Granitbrunnen plätschert Wasser, und ist der Reisende von der Erkundung des Orts erschöpft, kann er sich getrost in den Stuhl eines Straßencafés fallen lassen – viel Geld wird er dort nicht lassen müssen: Im Biergarten Mühlgrabenschänke etwa gibt’s „Bier über die Straße“ für 55 Cent. In Sebnitz hofft man, dass so viele Besucher des Sachsentags den Reiz der Region entdecken – und später wiederkommen.
Bis „ins Behmsche“, wie man hier sagt, also nach Böhmen, ist es keine Stunde und nach Dresden auch nicht weiter. Dazwischen liegen viele Berge, weshalb die Region seit mehr als hundert Jahren von Naturfreunden geschätzt wird. Kletterer messen sich an den frei stehenden Felstürmen, und wer es lieber beschaulich mag, durchstreift die Wälder auf einem der zahlreichen Wanderpfade. Sebnitz setzt auf den Wirtschaftsfaktor Tourismus – schließlich bewegt sich die Arbeitslosenquote in der strukturschwachen Stadt beständig um die 20-Prozent-Grenze.
Vor allem Kunstblumen sollen die Fremden nach Sebnitz locken. Denn seit vor 150 Jahren nordböhmische Kunstblumenmacher ihr Handwerk mit nach Sebnitz brachten, sieht sich die sächsische Gemeinde als Mekka der synthetischen Blüten. In der Boomphase, um 1900, produzierte die Stadt 75 Prozent des Weltmarktbedarfs an Kunstblumen – das zumindest behaupten die Sebnitzer. Anfang der Siebzigerjahre wurden die verbliebenen 80 Betriebe enteignet und zum VEB Kunstblume Sebnitz zusammengeschlossen. Nach dem Untergang der DDR ging es Anfang der Neunziger mit der Blumenproduktion rasch bergab. Der VEB wurde aufgelöst, und von den 5.000 Mitarbeiten blieben gerade mal 100 übrig. Heute wird der Markt der Plastikgebinde von Konkurrenten aus Fernost beherrscht.
Umso mehr bauen die Sebnitzer auf den touristischen Nebenzweig ihres Handwerks, die Souvenirproduktion. Schon kurz nach der Wende wurde die schlichte Kunstblume in „Seidenblume“ umgetauft und Sebnitz mit dem Vornamen „Seidenblumenstadt“ versehen. In der Manufaktur der „Deutschen Kunstblume Sebnitz“ können sich Besucher ihr eigenes Gebinde blümeln – so der Fachausdruck. Sebnitz beherbergt außerdem die größte Kunstblume der Welt, und jedes Jahr wird eine junge Dame dazu überredet, sich während der „Sebnitzer Blumentage“ zum „Sebnitzer Blumenmädchen“ küren zu lassen. Anschließend darf sie mit Stohhut, Dirndlverschnitt und viel Kunstblumen auf dem Kopf von Bühnen und Broschüren lächeln – und dieses Jahr kräftig für den Tag der Sachsen werben: auf Plakaten, zusammen mit einem Scheich und einem Mädchen mit dunklem Teint. Damit auch der Letzte merkt, dass man in Sebnitz wirklich nichts gegen Ausländer hat.