: Forschung über den verkehrten Verkehr
Eine umfassende Analyse von Unfällen zeigt, dass manchmal schon kleine Änderungen im Verkehrsfluss das Leben auf der Straße sicherer machen
Im Jahr 2003 starben in Deutschland 524 Kinder und Jugendliche im Straßenverkehr. Die Zahl ist zwar seit Jahren rückläufig, aber doch erschreckend hoch. Vor diesem Hintergrund beauftragte die Stiftung Kriminalprävention den Lehrstuhl für Verkehrswesen an der Ruhr-Universität Bochum (RUB), exemplarisch in drei Städten Unfallursachen zu erforschen und Präventionsmaßnahmen zu entwickeln. Dabei stellte sich heraus, dass alle drei Städte unterschiedliche Probleme zu bewältigen hatten.
Hier ereigneten sich die meisten Unfälle mit Kindern auf den Hauptstraßen, dort in den verkehrsberuhigten Zonen. Natürlich gibt es in jeder Stadt eine polizeiliche Unfallstatistik. Anders als die bekannten Stadtpläne, die mit unzähligen Stecknadeln gespickt an der Wand des Polizeireviers hängen, untersuchten die Wissenschaftler der Ruhruni die Unfallprotokolle detailliert, stellten kausale Zusammenhänge her. Dabei kam ihnen zugute, dass sie interdisziplinär arbeiteten. Verkehrsingenieure und Umweltpsychologen betrachteten dasselbe Geschehen von unterschiedlichen Standorten.
Bei der Untersuchung der Unfallprotokolle fiel den Ingenieuren auf, dass sich in den Protokollen die Worte „Kiosk“ oder „Eisdiele“ häuften. So kam man auf die Idee, typische Ziele von Kindern zu sammeln und in Beziehung zu den Unfallorten zu setzen. Bei der Auswertung von Videos wiederum konnten die Psychologen punkten. Die Ingenieure stellten fest, dass viele Kinder, wie vorgeschrieben, beim Abbiegen ein Handzeichen machen. Die Psychologen werteten zusätzlich auch die Körperbewegungen aus und kamen zu dem Schluss, dass Kinder durch das damit verbundene einhändige Fahren unsicher lenken.
Auf vier englische Wörter, die mit E beginnen, stützt sich die Unfallprävention: Engineering, Education, Enforcement und Entertainment. Zu den Aufgaben der Ingenieure: Manche Kurve im Wohngebiet, durch die bequem ein Sattelschlepper rasen konnte, wurde enger gestaltet. Manchmal, so Rainer Wiebusch-Wothge vom Lehrstuhl Verkehrswesen der RUB, reichen ein paar weiße Striche auf der Fahrbahn, um die Geschwindigkeit des Verkehrs erheblich zu reduzieren.
Bildungsmaßnahmen sind das zweite Standbein der Unfallprävention. In allen untersuchten Städten gab es viele Unfälle zwischen radelnden Kindern und Autos, weil die Kinder auf dem linken Radweg fuhren. Durch gezielte Projekte an Schulen wurde das Verhalten der Kinder positiv beeinflusst, die entsprechenden Unfallzahlen sanken signifikant.
Hier beklagt Wiebusch-Wothge allerdings, dass nur in Grundschulen eine kontinuierliche Verkehrserziehung angeboten wird. Die Zusammenarbeit mit Schulen der Sekundarstufe I und II ist dadurch erschwert, weil hier nicht kommunale Träger die Ansprechpartner sind. Aber gerade in dieser Altersklasse wächst der Bewegungsradius.
Die konsequente Ahndung von Verkehrsregelverstößen ist die dritte wichtige Säule in der Unfallprävention. Die Mutter, die mit 65 km/h ihr Kind noch schnell zur Schule bringt, damit es dem gefährlichen Straßenverkehr nicht ausgesetzt ist, bildet keinen Einzelfall.
Ein anderes Beispiel: Kinder können, wenn sie zwischen parkenden Autos stehen und eine Straße überqueren wollen, nicht rechtzeitig von Autofahrern gesehen werden und diese nicht rechtzeitig sehen. Falschparker gefährden also Kinder. Ein Merkblatt am Knöllchen wirkte hier Wunder. Und das ist auch schon der letzte Bereich, in dem Unfallprävention tätig ist, die Öffentlichkeitsarbeit. Werbetafeln am Straßenrand, Radiospots und Zeitungsartikel verändern die Fahrgewohnheiten der Raser und Falschparker. Dies hat die Untersuchung gezeigt.
Unfallprävention funktioniert nur, so Wiebusch-Wothge, wenn alle vier Bereiche in Angriff genommen werden. Ansonsten entsteht schnell ein Jo-Jo-Effekt, die Unfallzahlen sinken nur in einem Jahr, im nächsten schnellen sie wieder hoch.
Natürlich ist die von Wiebusch-Wothge erstellte Untersuchung nicht so spektakulär als würde ein Wissenschaftler zu Quarks oder Galaxien forschen. Die Ergebnisse aus Bochum erinnern zuweilen an den legendären Fernsehspot „Der 7. Sinn“. Einen sofortigen Erfolg allerdings kann Wiebusch-Wothge vorweisen. In den drei Städten sanken die Unfallzahlen. Im Schnitt 20 Prozent weniger Kinder verunglückten. So sarkastisch das klingt: Die Kosten der Untersuchung haben sich volkswirtschaftlich amortisiert. Wer allerdings eine Familie kennt, in der ein Kind vom Auto überfahren wurde, weiß, dass die Arbeit der Ingenieure und Psychologen viel mehr wert ist. LUTZ DEBUS