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Archiv-Artikel

eine stimme der korrektur: nichts ist uns heilig

Wir haben ein Rechtschreibprüfungsprogramm. Auf Befehl hin markiert es ihm fragwürdige Wörter mit gelben Balken. Neulich zum Beispiel das Wort Religion. Vielleicht war das aber nur seine persönliche Anmerkung, denn das Programm ist manchmal lernfähig. Unbeschwert setzt es sich dagegen über „Mininisterpräsident“ hinweg. Und auch dieser Art Respektlosigkeit kann ich viel abgewinnen.

„Strukturanpassungspolitik“ bereitet dem Programm wiederum Schwierigkeiten. Mit zusammengesetzten Wörtern tut es sich generell schwer. Es hat sozusagen ein menschengemachtes, jedoch harmloses Strukturproblem, auch wenn es, was die Lesbarkeit betrifft, völlig im Recht ist. Strukturprobleme, die Menschen zu erkennen glauben, können weitaus bedrohlicher sein. Zum Beispiel, wenn sie darunter andere Menschen wie Rentner, Behinderte oder Mitglieder einer (eigenen) Belegschaft verstehen, die sie für überflüssige Mäuler halten. Um das gedanklich und gewissensmäßig durchhalten zu können, haben sie den Nihilismus entdeckt – nicht den alten russischen nigilízm, der sich im 19. Jahrhundert gegen die herrschende Ideologie wandte, sondern die postmoderne Mutation, der nichts – lateinisch nihil – heilig zu sein scheint.

„Wir möchten lieber als banale Antihumanisten verachtet denn als fromme Humanisten gelobt werden“, sagen zum Beispiel Jake und Dinos Chapman, britische Künstler. Deshalb versehen sie die Gesichter von aus Fieberglas hergestellten Mädchen und Jungen mit Genitalien. Und pinseln blaue Mickymausfratzen in Goyas Radierungen zu den Schrecken des Krieges. Und lassen in ihrem Figurentableau „Hölle“ Nazisoldaten … eine McDonald’s-Filiale stürmen.

Ähnlich empfinden die hiesigen „Antideutschen“, die paranoiden, selbst ernannten Wächter über alles, was sie als Aufkommen nationalsozialistischer Tendenzen deuten. Sie sehen eine zweifelsfreie Verbindung zwischen Faschismus und Angriffen auf den US-Imbisskonzern: José Bové, der Bauernaktivist und Globalisierungskritiker aus Frankreich, der dies getan hat, gilt ihnen als „großer Antisemit“ und „völkischer Ideologe“ – denn wer das (US-)Kapital angreift, kann nur „die Juden“ meinen.

Und siehe da – der „antideutsche“ Wächterrat verwandelt den Antifaschismus in ein neoliberales Credo, der Nichts-ist-uns-heilig-Nihilismus wird zu einer Huldigung an die großen Konzerne: „We want to make McDonald’s into a religion“, sagen die Chapman-Brüder. Das kennzeichnet unser Rechtschreibprüfungsprogramm vom An- bis zum Abführungszeichen als fehlerhaft. Ich halte das für eine kluge Entscheidung. ROSEMARIE NÜNNING