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Archiv-Artikel

Geschichte ist mehr als Sexualität

Christian Geulen scheitert mit Verve bei seinem Versuch, den Rassendiskurs theoretisch neu zu ordnen. Zu grob verallgemeinernd orientiert er sich an Foucaults Konzept der „Biopolitik“

Bislang hielt man den chauvinistischen Nationalismus vor und nach dem Ersten Weltkrieg für eine Radikalisierung des herkömmlichen Nationalismus. Christian Geulen will nun in seinem Buch über „Rassendiskurs und Nationalismus“ die Diskussion über den Zusammenhang von Nation, Rasse und Imperialismus theoretisch neu ordnen. In seiner diskurstheoretisch angelegten Studie bestreitet er die These des graduellen Übergangs vom Nationalismus zum rabiaten Rassismus. Mit Hilfe des Konzepts der „Biopolitik“ des französischen Philosophen Michel Foucault versucht Geulen darzulegen, dass der Rassendiskurs auf anderen Grundlagen beruht als jener über Nationalismus.

Mit der Einbeziehung der Theorie Darwins sowie der Biologie, der Anthropologie und der Medizin wurde der Diskurs über Rassen auf eine neue Stufe gehoben. „Rassen“ galten fortan nicht mehr als Urphänomene oder ideologisch konstruierte Wesenheiten, sondern als Objekte naturwissenschaftlicher Forschung. Mit dem Nimbus objektiver Wissenschaftlichkeit ausgestattet, gewannen Rassentheorien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts breitenwirksam an Plausibilität. Freilich gingen in die moderne Biologie wie in die moderne Medizin immer auch politische Ordnungsvorstellungen ein.

Selbst bei Wissenschaftlern wie dem bekannten Mediziner Rudolf Virchow ist die politische Stoßrichtung seines Werks nicht zu übersehen, obwohl er die ausgreifenden Spekulationen der populären Rassentheoretiker ablehnte. In seiner mechanistischen Naturauffassung, die einen Fortschrittsoptimismus als Religionsersatz beflügelte, wird die Bevölkerung nicht nur zum Gegenstand wissenschaftlicher Vermessung, sondern zum Objekt „rassischer“ Verbesserung. Virchow und andere Naturwissenschaftler verstanden sich als Träger von „Bildung, Aufklärung, Weisheit“ und damit als Wegweiser der Politik in Fragen der Gesundheit.

Das alles ist so richtig wie problematisch. Sicher war Virchows mechanistische Auffassung für politische Vereinnahmungen anfällig, da er Nation und Rasse durch Gesundheitspolitik und Hygiene verbessern wollte. Andererseits wandte sich Virchow – bei aller Befangenheit im völkisch untermalten Traum von „der Einheit der Nation“ – immer ganz scharf gegen eine Politisierung der Naturwissenschaft im Sinne eines Ernst Haeckel, der den Darwinismus als Leitwissenschaft etablieren wollte.

Im Gegensatz dazu hielt Virchow an der Trennung von Wissenschaft und Nationalreligion fest. Geulen dampft diesen prinzipiellen und politisch folgenreichen Gegensatz zu einem Streit über „Modi der Verwirklichung“ ein. Mit solchen forschen Reduktionen und Gleichsetzungen begibt sich Geulen selbst auf das Gebiet der Spekulation und der beliebigen Zurechnungen.

So versucht er, die verschiedenartigen, in ihrer Bedeutung nicht analysierten Diskurse über Nationalismus, Rassismus, Sexualität, Antisemitismus, Kolonialismus zueinander in Beziehung zu setzen, ohne präzise zu analysieren, wie der vermeintliche Zauberschlüssel funktioniert – also Geulens „biopolitisches Paradigma“. Sein Versuch endet konsequenterweise in einer bloßen Behauptung, der das argumentative Fundament fehlt. Denn: da diskursiv notorisch alles irgendwie mit allem zusammenhänge, soll sich auch Realgeschichte im Zeichen von Nation und Rasse als „Biopolitik“ manifestieren. Die Belege dafür sind dünn.

Im Vergleich mit den USA zeigt Geulen, dass sich auch dort ein Paradigmenwechsel einstellte. Das Nachdenken über die Herkunft und das Wesen von Nation und Rassen wurde abgelöst von einem „therapeutischen Denken“, das sich mit dem Schutz und der Optimierung von Rassen durch eugenische Intervention beschäftigte. Hygiene wurde in dieser Perspektive ebenso zum Instrument im „Rassenkampf“ wie die Einwanderungspolitik. Freilich setzten sich die radikalsten Vertreter solcher Politik in den USA nie durch – im Unterschied zum Deutschland unter den Nazis.

Geulens Studie öffnet die Augen für einige bisher übersehene Aspekte der Diskussion über Nation und Rasse. Mehr nicht. Der Autor löst seinen großspurig formulierten Anspruch nicht ein; die Studie vermag im Ganzen nicht zu überzeugen. Das liegt zum einen daran, dass er „den Rassendiskurs“ explizit zum „Agenten“ der Geschichte überdehnt und damit alle anderen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Interessengegensätze einfach ausblendet. Er tut so, als ob die wahnhafte Vorstellung von Rassisten aller Couleur, die Geschichte drehe sich allein um die Erhaltung der Rasse, je den historischen Tatsachen entsprochen hätte.

Wie Foucault neigt Geulen außerdem zu verallgemeinernden interpretatorischen Verkürzungen, die durch das eher karge empirische Material der Studie nicht gedeckt sind. Einmal reduziert er das Problem der Reproduktion der Rasse zur trivialen Sentenz: „Geschichte ist Sexualität“. An anderer Stelle treibt er die These, dass im Rassendiskurs der Gegensatz von Natur und Geschichte und damit auch Politik tendenziell verschwinde, zu der absurden Konsequenz: beim „Rassenkampf“ im „privaten Ehebett“ gehe es um dasselbe wie bei eugenischen Programmen oder in der Kolonialpolitik.

Foucaults Konzepten ergeht es in letzter Zeit ähnlich wie jenen Luhmanns: Je häufiger und sorgloser sie herzitiert und auf alles und jedes angewendet werden, desto schaler werden sie. Das liegt nicht an den Meistern und ihren Konzepten, sondern an der Leichtfüßigkeit der Adepten. Foucault und Luhmann bleiben wichtig. Die Pirouetten der Foucaultinis und Luhmanninis führen ins Abseits.

RUDOLF WALTHER

Christian Geulen: „Wahlverwandte. Rassendiskurs und Nationalismus im späten 19. Jahrhundert“, 411 Seiten, Hamburger Edition, Hamburg 2004, 45 Euro