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Archiv-Artikel

Wo Gott Pole ist

Was ist eigentlich hinter der Oder so los? Eine Erkundung zu Mariä Himmelfahrt

Männer aller Geschlechter animieren auf der Bühne den Glaubensevent

Tschenstochau, das Zentrum der volkstümlichen polnischen Betkultur, läuft im Sommer über wie ein Eimer Messwein. Abertausende Wallfahrer kommen jeden Tag in der Kirchenanlage auf dem Heiligen Berg, wo sich die Ikone der Jungfrau mit dem Kind befindet, zusammen – das erste von vielen Wundern in Polen, die eigentlich niemand erklären kann. Das zweite: Alle diese Leute müssen doch anderswo fehlen! Aber siehe, niemand scheint sie zu vermissen.

Rund um die Uhr ist in der Kapelle das Beten, Weihen und Segnen im Gang. Als aufgeklärter Besucher aus Deutschland, der allenfalls vor einem weltlichen Geschlechtsteil in die Knie geht, reibt man sich vorne und hinten die Augen: Die Leute glauben an Gott, als hätte er den Einspritzmotor erfunden oder wenigstens ein einziges Mal auch nur eine Doppelhaushälfte errichtet! Professionell ausgebildete Christen in farbigen Kostümen, im Privatleben Männer aller Geschlechter, animieren auf der Bühne den Glaubensevent, während im Zuschauerraum erwachsene Menschen die Hände falten und einen Gott anbeten, der offenbar Polnisch kann. Im Unterschied zu all den Touristen aus Deutschland! Aber seien wir bescheiden, eines muss Gott ja uns Deutschen voraushaben. Deshalb sind wir doch so gern gesehen, insbesondere in der ganzen Welt.

Anders als in Deutschland, wo man den alten Knaben nur anruft, wenn man bis zu den Nasenlöchern in der Scheiße steckt, gehört Gott in Polen praktisch zur Familie wie der Hund. Und er pariert aufs Wort! Denn wahrlich, ich sage euch, hier in Tschenstochau macht dieser Gott die Lahmen sprechen und die Stummen essen: An den Wänden der Kapelle hängen Votivgaben, baumeln Krücken und Holzpenisse, die sichtbaren Zeichen der Wunderheilungen, und ein Rekonvaleszent hat einen Dankeszettel angeheftet: „Ich war in Tschenstochau – und kann wieder beten!“

Das Wunder wird noch größer, wenn man bedenkt, dass die Ikone nur eine Kopie ist, denn das Original wurde schon im 15. Jahrhundert geraubt.

Ein weiteres Wunder: Alle vermag die Kirche zu speisen – nur mit Oblaten. Und natürlich mit schönen Worten. Das unterscheidet das Christentum von der modernen Literatur.

Glauben und Beten gehören in Polen, das sich seit alters als den geschundenen Heiland unter den Nationen vergöttert, zur Volkskultur. Tradition wird aber auch in anderen Bereichen groß geschrieben. Schon zum Frühstück erhält man Wodka, damit man seinen Kaffee nicht trocken runterwürgt. Als Hauptmahlzeit dient Bigosch, ein Gericht aus Kartoffeln und Sauerkraut, das sehr merkwürdig schmeckt, wenn man als moderner deutscher Gourmet Majonäse und Ketschup darüber gießt. Aber so ist es in Polen, es passt einfach nichts zusammen.

Eine andere Überraschung und ein weiteres Wunder: Selbst in Polen gibt es Polenwitze. „Wie rufen Polen ihren Sohn? Klaus!“, lese ich in einem Bändchen, das ich aus einem Buchladen mit deutschem Sortiment habe mitgehen lassen. Stehen lassen habe ich dafür die unzähligen Gedichtbände über Auschwitz.

Dass die Polen genug Selbstbewusstsein im Schrank haben, um sich veräppeln zu lassen, zeugt von der so notwendigen toleranten Weltoffenheit in unserer modernen Zeit, in der es unumgänglich ist, dass aufgeklärte, liberale Völker solche harmlosen Sticheleien mit Humor ertragen. Weniger lustig sind dagegen die polnischen Witze über Deutsche. „Woran erkennt ein Förster, dass ihm ein Fuchs aus Deutschland in die Falle gegangen ist? Der Fuchs hat sich drei Beine durchgenagt und sitzt noch immer in der Falle!“ Ich habe viel Verständnis für Satire und lache durchaus gern, aber das ist nicht komisch. Solche Witze sind in einem vereinten Europa wirklich fehl am Platz! Zwei Weltkriege dürften schließlich genug sein, finde ich. Aber das ist meine persönliche Meinung.

Vorurteile passen nun mal nicht in die Welt von heute, auch wenn es selbstverständlich in Polen an Sauberkeit und Ordnung hapert. Es gibt Mülltonnen, doch in ihrem Inneren herrscht ein unbeschreibliches Tohuwabohu.

Die sprichwörtliche polnische Wirtschaft dagegen hat sich gewandelt. Zwar wird das flache Land immer noch von Ackerbau und Viehzucht treibenden Bauern bewohnt, reines 19. Jahrhundert! Ansonsten aber hat bereits vor Jahren die Zukunft begonnen, ganz anders als im rückständigen Deutschland, dem sein soziales Gewissen wie eine schwere Eisenkette um den Sack hängt. In Polen aber lohnen sich Leistung, Verantwortung und Gewinnstreben endlich; überall am Straßenrand bieten fliegende Händler Pilze, Aale und ihre Großmutter an. Tiefe Sorge befällt den Reisenden aus dem Westen: Wird der Standort Deutschland im neuen Zeitalter der Globalisierung wirklich konkurrenzfähig werden können mit Osteuropas Jägern und Sammlern?

Indes dürfen wir, ohne ein Wunder zu bemühen, durchaus optimistisch in die deutsch-polnische Zukunft schauen. Denn bei allen Unterschieden steht eines fest: Die Polen sind wie wir – und wer sind wir schon!

PETER KÖHLER