Nah am fremden Leben

Wer seine Filme nicht kennt, lebt in einer Welt ohne Sonne und Mond: Das Kino Arsenal zeigt eine Retrospektive des vor allem im westlichen Ausland beliebten indischen Filmemachers Satyajit Ray

Seine Arbeitsweise war die des klassischen Autorenfilmers

von DORTHEE WENNER

Wenn bei einem Film von Satyajit Ray der Vorhang aufgeht, versinkt man gleich in den ersten Minuten ganz tief im Kinosessel. Was dann folgt, ist eine Entführung in ferne bengalische Welten, von denen man nie ahnte, dass sie einem so nah und vertraut sein könnten. Darüber muss man staunen und fast immer ein bisschen weinen, weil die Filme so wahr und melancholisch sind. Komischerweise wirft man nach ein paar Jahren die Titel der Filme und die Geschichten etwas durcheinander, das Wesentliche aber vergisst man nicht: Wer Rays Filme nicht gesehen habe, so sagte einmal Kurosawa, lebe in einer Welt ohne Sonne und Mond.

„Charulata“ (Die einsame Frau) aus dem Jahr 1964 hielt Ray für seinen besten Film – er gehört zu denen, die offenkundige Liebeserklärungen an seine Heimatstadt Kalkutta sind. Dabei sieht man die Stadt fast nur aus der Perspektive von Charulata, die vorzugsweise mit einem Opernglas durch die halbverschlossenen Jalousien ihrer opulenten Villa nach draußen schaut. Die intellektuell unterforderte Ehefrau eines ambitionierten Zeitungsherausgebers versucht, mit der Außenwelt Kontakt aufzunehmen. Doch es gelingt ihr nicht: Charulatas Reich ist der Innenraum, und ihre Sprache ist der beredsame Augenaufschlag, den die Schauspielerin Madhabi Mukherjee gemäß dem indischen Frauenideal wirklich perfekt beherrscht. Dabei scheint sie jedoch mit jedem Blick den Anstand zu verhöhnen, der sie in die Rolle der Schweigsamen drängt. Besonders, wenn ihr Mann zu Hause ist.

Als dessen Bruder – ein lockiger Beau und charmanter Nichtstuer – zu Besuch kommt, beginnt für Charulata ein heikles, erotisches Abenteuer. Sie verliebt sich in den Mann, der – im Unterschied zu ihrem Gatten – Spaß daran findet, mit Charulata ganze Nachmittage auf luxuriösen Sofalandschaften zu verplaudern – und dabei ihr Talent zum Schreiben entdeckt. Der Film spielt um 1880 und hat unverkennbar einen feministischen „Sixties“-Touch – ist dabei aber so zeitlos aktuell, wie er zugleich sehr bengalisch und dennoch universell verständlich ist. Das ist zweifellos eines der typischen Merkmale von Ray-Filmen, die seine Popularität im Westen erklären. Rays Filme folgen stets einer hierzulande gut verständlichen Dramaturgie, die von den italienischen Neorealisten, aber auch von seinen Lieblingsregisseuren William Wyler, Frank Capra oder Ernst Lubitsch beeinflusst ist.

Seine Arbeitsweise war die des klassischen Autorenfilmers, wobei ihm seine vielseitigen Talente als Schriftsteller, Komponist und Zeichner zugute kamen. Es war Jean Renoir, der Ray dazu ermutigt hatte, auf diese in Indien ganz und gar unübliche Weise Filme zu machen. Die beiden hatten sich 1949 angefreundet, als Renoir in Indien „La fleuve“ drehte. „Pather Panchali/Das Lied der Straße“, Rays Debütfilm, entstand wenig später – mit geringem Budget und fast ausschließlich mit Laiendarstellern besetzt. Dieser erste Teil der nach dem Hauptdarsteller „Apu“ benannten Trilogie wurde im New Yorker Museum of Modern Art uraufgeführt, in Cannes mit einem „Preis für die menschlichen Werte des Films“ ausgezeichnet – und machte Ray auf Anhieb weltberühmt.

„Pather Panchali“ erzählt von der Kindheit eines verarmten Brahmanensohns, der um 1910 in einem abgelegenen Dorf zur Welt kommt. Der Vater ist etwas verträumt und überläßss es meistens Apus Mutter, den harten Alltag zu meistern. Als die Armut allzu drückend wird, beschließt der Vater, seine Familie allein zu lassen, um in Benares Geld zu verdienen. Doch er bleibt zu lange fort – bei seiner Rückkehr entdeckt er, dass der Monsoon die Hütte zerstört hat und dass seine Tochter Durga gestorben ist. Auf dem Totenbett hatte Durga Apu versprochen, bald wieder mit ihm zu den Schienen der Eisenbahn zu gehen, die man in diesem Film immer wieder aus der Ferne hört. Im zweiten der Trilogie wird Apu, wie Millionen andere indische Dorfbewohner, eines Tages mit dem Zug in die Stadt fahren, und auf dieser Reise ein anderer werden.

Die drei Filme über Apus Kindheit, seine Jugend und sein Erwachsenenleben wirken wie zu Spielfilmen verdichtete Dokumentarfilme. Man meint, eine echte Lebensgeschichte zu sehen. Wer diesem Gefühl auf den Grund geht, wird einerseits den Schlüssel zu Rays Erfolg im Ausland finden. Auf der anderen Seite beginnt man an genau dieser Stelle zu verstehen, warum sich der realistische Erzählfilm in Indien nie durchsetzen konnte. Im Westen sieht man Apus Kindheit aus großer Distanz und kann seine Sehnsucht befriedigen, ungestört von exotisierender Darstellung nah an einem fremden Leben teilzuhaben.

In Indien dagegen ist für die Mehrheit des Publikums ein Lebensweg wie der von Apu bis heute so typisch, dass er wie eine Wiederholung der eigenen Erfahrung wirkt. Anders als im Westen, ist diese Selbstreflexion nicht das, was man von einem Kinofilm erwartet. Eher im Gegenteil erhofft sich das indische Publikum vom Kinobesuch in aller Regel Ablenkung. Kommerziell erfolgreiche Hindi-Filme funktionieren eher wie ein emotionales Karussel, das einen nach ganz anderen Regeln als die westlicher Dramaturgie durcheinander wirbelt und erfrischt in die Wirklichkeit zurückentlässt.

Diese gegenläufigen Erwartungen haben dazu geführt, dass Satyajit Ray stets an erster Stelle genannt wird, wenn über „Bollywood“ vs. „parallel cinema“/Autorenkino diskutiert wird. Im Unterschied zu den Dreistündern mit Musik und Tanzeinlagen gelten Rays Filme zumindest im Westen als viel indischer als die Kommerzfilme aus Bollywood. Der kosmopolite Städter Ray litt unter diesem Dilemma und wusste, dass er beispielsweise im Unterschied zu seinem „Lieblingskonkurrenten“, dem Regisseur Pramathesh Barua, niemals ein bengalischer „Publikumsregisseur“ werden würde.

Obwohl Satyajit Ray (1921–1992) zu den bedeutendsten Regisseuren der Filmgeschichte gehört, ist das Zustandekommen der fast vollständigen Retrospektive im Arsenal das Resultat einer zweijährigen, obsessiven Suche nach den Kopien von Ray-Fan Ulrich Gregor. Diese Arbeit, so Gregor, sei dann aber doch eher nach den Regeln der Bollywood-Dramaturgie verlaufen – mit jeder Menge Überraschungen. Mit einem klassischen Happy End und dem Ergebnis, dass man außer den bekannten Meisterwerken auch die seltene Gelegenheit hat, Rays Krimis und seine Dokumentarfilme zu sehen.

Die Ray-Retro dauert bis Ende Oktober; Programm unter: www.fdk-berlin.de