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Archiv-Artikel

Sprung zwischen Kopf und Rumpf

Jährlich brechen sich rund neun Berliner beim Baden den Hals. Arne Schöning sprang vor zwei Jahren in einen zu flachen Pool, seitdem ist er querschnittgelähmt. Sein Traum: ein warnender Kinospot

VON STEFAN KLOTZ

Die Hitze drückt. Im Schatten der Markise blickt Arne Schöning von seiner Dachterrasse in das satte Grün der Bäume auf dem Friedhof Steglitz. Straßenlärm ist kaum hörbar. „Mit der Wohnung habe ich wirklich Glück gehabt“, findet Arne. Überhaupt spricht der junge Mann oft vom Glück, das er in seinem Leben hatte. Das zu glauben fällt spontan nicht leicht. Arne ist seit zwei Jahren querschnittgelähmt. Ein Schicksal, das er mit 50.000 Menschen in Deutschland teilt, schätzt die Deutsche Stiftung Querschnitt. 75 davon leben laut Unfallkrankenhaus Marzahn, das sich auf solche Fälle spezialisiert hat, in Berlin.

Immer im Sommer häufen sich Badeunfälle. Ein Kopfsprung ins flache Wasser, eine Untiefe im See. Da hat der menschliche Hals wenig entgegenzusetzen. Im jährlichen Mittel brechen sich in Berlin und Umland neun Menschen beim Baden den Hals. „Der Klassiker“, sagt Arne. „Bei mir war es im Urlaub in Tunesien. Der Kopfsprung ins zu niedrige Wasser des Hotelpools, Bruch des fünften Halswirbels, Tetraplegie.“ So subsumiert der 27-Jährige seinen Schicksalsschlag. Rund 30 der 75 Querschnittgelähmten in Berlin sind Tetraplegiker. Bei ihnen sind alle vier Gliedmaßen, Beine wie Arme, von der Lähmung betroffen, bei Paraplegikern nur die Beine. Je weiter Richtung Kopf das Rückenmark beschädigt wurde, um so stärker ist der Körper beeinträchtigt.

„Bizeps und Handheber funktionieren noch bei mir“, erklärt Arne. Mit dem Bizeps kann er seinen Rollstuhl per Muskelkraft antreiben, mit dem Handhebemuskel die Hand bewegen. Senkt er sie, öffnen sich die Finger, die sonst zu einer leichten Faust geschlossenen sind. Einzeln bewegen kann er sie nicht mehr. Die Nervenbahnen dorthin sind durchtrennt. Deshalb sind die Sehnen künstlich verkürzt worden. So formen die Finger eine Art Greifhand, in der Arne ein Telefon festklemmen oder eine Trinkflasche halten kann.

„Ich habe noch Glück gehabt“, meint der ehemalige Rettungsschwimmer voller Überzeugung. Er meint es ernst. „Ich kann meine Bedürfnisse noch artikulieren. Wenn ich will, dass mir jemand etwas zu trinken bringt, dann kann ich ihn darum bitten.“ „Das ist mein Stichwort“, bemerkt Thorsten mit einem Lächeln. Der ist als Pflegeassistent bei einem privaten Pflegedienst angestellt. Er hilft Behinderten wie Arne, ihren Alltag zu bewältigen. Die beiden Männer tauschen ein Grinsen, dann verschwindet Thorsten in der Küche und füllt das leere Limoglas.

Der Umgang zwischen beiden ist ungezwungen. Leute wie Thorsten begleiten Arne Schöning zum Einkaufen, zum Arzt, ins Kino und auf die Toilette, überall dorthin, wo er Hilfe braucht. „Wir pflegen ein WG-artiges Verhältnis“, sagt Thorsten, obwohl der Umgang zwischen Pfleger und Gepflegtem natürlich weit darüber hinaus geht. „Intimität kannst du dir in meinem Zustand komplett schwer leisten“, erklärt der Urspandauer Arne. Unter der Dusche oder auf der Toilette, wo die meisten gern allein sind, ist bei ihm immer jemand wie Thorsten mit dabei.

Trotzdem kämpft Arne um jedes Quäntchen mehr Freiheit in seinem Alltag. In der Klinik hat er das zur Blasenentleerung notwendige Katheterisieren gelernt. Dabei wird ein Schlauch durch den Penis bis in die Blase gelegt. Ein medizinischer Eingriff, der steriles Arbeiten erfordert und selbst Menschen mit gesunden Händen viel Fingerspitzengefühl abverlangt. Für Arne war es ein monatelanges Lernen und Probieren. Nicht viele Tetraplegiker können das.

Willentliches Ausscheiden von Stuhl und Urin ist nicht mehr möglich und muss deshalb in rhythmischen Abständen durch Blasenkatheterisierung oder gezieltem Einsatz von Abführmitteln erfolgen. Doch dieser Rhythmus kann durcheinander geraten. Nichtgelähmte kennen das Gefühl. Zu viel Stress, ein Schluck zu viel Kaffee und man muss mal kurz verschwinden. Arne spürt das Gefühl nicht mehr. Viele Gelähmte trauen sich daher nur selten unter Menschen, aus Angst, es könnte in die Hose gehen. Zudem führt das ständige Katheterisieren häufig zu Harnwegsentzündungen. Längere Klinikaufenthalte, wie sie deshalb bei Rollifahrern immer wieder nötig sind, blieben Arne bisher erspart.

Arne spricht gestenreich und lebhaft. Auch bei vermeintlichen Tabuthemen wie dem Gang aufs Klo oder Sexualität kommt er auf den Punkt. „Lieber mich gefragt, als ungefragt nachgedacht, egal was es ist“, lautet sein Motto. Missverständnisse bei anderen vermeidet er so am besten. Alles, was er anspricht, unterlegt er konkret mit einem Beispiel. Einmal verliebte er sich seit dem Unfall, führte eine „schöne Beziehung“, wie er sagt. „Was die Sexualität angeht, war ich noch mal 16. Alles fing nochmal von vorne an.“ Das Fühlen mit einem tauben Körper musste er ganz neu lernen. Manchem mag Arnes Einstellung hemdsärmlig vorkommen. Er bezeichnet sich daher eher als Pragmatiker, der seine Rehazeit mit ausgeschaltetem Kopf einfach durchgezogen hat. Bei Komplikationen kann die bis zu einem Jahr dauern.

Bis zum Unfall am 21. Juni 2002 war er Aufnahmeleiter in einer kleinen Filmproduktionsklitsche im Sony-Center. Als gelernter Energieelektroniker der BVG war er eher zufällig an den Job geraten. An jenem Tag in Tunesien spielte Deutschland bei der Fußball-WM gegen USA. Er hätte dort ursprünglich jobmäßig vor Ort sein sollen. „Einmal habe ich Pech gehabt“, sagt Arne.

„Bis dahin gehörte Spontaneität zu meinem Alltag. Morgens kam der Auftrag, und abends war der entsprechende Film im Kasten.“ Diese Art der Spontaneität gehört der Vergangenheit an. Wenn er heute aus der Wohnug will, muss er drei Tage vorher den „Telebus“, den Behindertentransportdienst, ordern.

Aber er stemmt sich er mit aller Kraft gegen alle Einschränkungen in seinem Leben. Fortwährend grübelt er mit seinen Ergotherapeuten, mit welchen Kleinigkeiten sich sein Alltag vereinfachen lässt. Nach einem Jahr Papierkrieg mit diversen Behörden bekam er nun das Geld für ein behindertengerechtes Auto genehmigt. Ein Auto, das Arne allein fahren kann. Schließlich hat er noch Gelder für seine Stelle beim Verein zur Förderung Querschnittsgelähmter besorgt. Dort entwirft er Visitenkarten oder sucht nach Sponsoren – etwa für ein rollstuhlgerechtes Auto für das Unfallkrankenhaus Marzahn oder eine Stützpunktwohnung für frisch Entlassene.

Er hat Ideen und versucht Sponsoren zu werben. Das ist schwierig. „Rollstuhlfahrern fehlt der prominente Fall, wie beispielsweise Freddy Mercury, der den Aidsstiftungen großen Zulauf brachte“, begründet der PR-Mann Schöning. Wolfgang Schäuble allein zieht nicht.

Arne weiß, dass er nicht als typisches Fallbeispiel durchgeht. „Mein Umfeld hat mich aufgefangen“, sagt er bescheiden. „Meine Freunde waren für mich da.“ Er kann verstehen, dass manche Betroffenen resignieren. Auch er hat eine Talsohle durchschritten, war depressiv. Aber er wollte weitermachen. „Im November wird meine Tochter zwei Jahre. Auch das ist ein Ansporn“, meint der Vater Arne.

Im Flur hängen Fotografien. „Aus meinem ersten Leben“, wie er sagt. Sie zeigen ihn unter anderem beim Klettern in der Provence. Seit einem halben Jahr hängen sie dort. „Dass ich nicht mit jemand anderem hadern muss, der meinen Unfall verschuldet hat, hat es mir leichter gemacht“, sagt er. So konnte er die Bilder aus dem Leben dieses Arnes mit dem Leben des Arnes jetzt verbinden.

Er hat auch noch einen großen Traum. Jeder zehnte Querschnittsgelähmte in Berlin hatte einen Badeunfall. Das möchte Arne ändern. „Einen Kinospot würde ich gerne drehen“, spricht der Filmmensch in ihm. Mögliche Botschaft: Nie kopflos ins Wasser springen. „Im Sommer in den Kinos erreicht der die richtigen Leute. Und ich könnte nochmals meiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen. Filmedrehen.“