Terrorismus der Heiterkeit

Der Karneval, das Leben: Tom Schreibers Spielfilmdebüt „Narren“ ist eine Frontalattacke auf den rheinischen Frohsinn

„Das deutsche Volk! Es muss sich befreien von seiner Schwermut!“, bellt das Hitler-Double zu Beginn des Films. Und kündigt an: „Ab heute wird zurückgefeiert!“ Apocalypse Now in Köln. Die Narren sind los. Das Spielfilmdebüt von Tom Schreiber ist eine einzige Frontalattacke auf rheinischen Frohsinn: Massenbesäufnis, erzwungene Verkumpelungen, Diktatur des Ausnahmezustandes, Terrorismus der Heiterkeit inklusive. „Kölle Alaaf!“ ist hier kein Freudenruf, sondern offene Drohung, das Kampfgeschrei, bei dem die Karnevalsverächter zu Scharen die Stadt verlassen, um nicht als unschuldige Passanten im Bonbon-Bombardement zu enden. Auch Roman (Christian Bach), der prototypische schüchterne Büroangestellte, würde nichts lieber tun, als der Stadt fluchtartig den Rücken zu kehren, wäre da nicht seine ebenso schrullige wie karnevalsbesessene Großmutter (Hannelore Lübeck), die ihn wahlweise mit seinem Vater oder mit ihrem verstorbenen Mann verwechselt, und um die er sich dennoch aufopferungsvoll und geduldig zu kümmern hat. Also bleibt er, gegen seinen Willen, gegen besseres Wissen, um von Weiberfastnacht bis Aschermittwoch sein Martyrium zu erleiden. Die Strohpuppe, die als Sündenbock an einem Strick vor seinem Fenster baumelt, trägt den gleichen Mantel wie er.

„Lasst, die ihr hier eintretet, alle Hoffnung fahren“ – von Dante könnte das Drehbuch stammen, von Brueghel die Bilder, von Kafka die Hauptfigur. Ein Ausweg wird nicht angeboten, die Alternativen lauten Aufgehen in der Massenhysterie oder Einschluss in die Psychose. Nachdem er zusehen musste, wie ein jugendlicher Taschendieb von zwei Jecken zu Tode geprügelt wurde, seine Zufallsbekanntschaft Stella (Victoria Deutschmann) sich nicht als die Liebe seines Lebens, sondern als Willkommensgeschenk seiner neuen Bürokollegen herausstellt und ihm am Ufer des Rheins ein frustrierter Prinz Karneval persönlich seine Tinnitus-Leiden gebeichtet hat, verliert Roman auf dem schmalen Grat zwischen Wahn und Wirklichkeit zusehends den Halt. Dabei legt sich das Drehbuch inmitten all der Ereignisse keinerlei realistische Beschränkungen auf. Wie die bürgerliche Ordnung auf den Straßen, so wird auch die Logik der Wahrscheinlichkeit der Handlung außer Kraft gesetzt. Was von dem surrealen Treiben aufs Konto des schwindenden Realitätssinnes der Hauptfigur geht, was auf den epidemischen Fasnachtswahn um ihn herum, ist am Ende nicht mehr auszumachen. Auf dem Höhepunkt seiner surrealen Odyssee schiebt Roman seine tote Oma im Eisbärenfell im Rollstuhl durch das Karnevalsgewimmel auf den Straßen, das längst zu einem makabren Totentanz ausgeartet ist.

Schluss mit lustig im Anti-Festzelt-Genre? Herbert Achternbuschs Oktoberfest-Vernichtung „Bierkampf“ war als Anarchospaß wenigstens noch von ähnlich derber Komik wie sonst nur die Wies’n selbst, Gerhart Polt hat als überversicherter Gabelstaplerfahrer in „Kehraus“ den Karneval als bittere Farce dargestellt, die zumindest noch ein sozialkritisches Potenzial in sich trug: der Ausnahmezustand Karneval als temporäre Betäubung der Ohnmacht der Kleinen gegen „die da oben“. Nichts davon in Schreibers „Narren“, in dem alle zu Tätern werden, und der dabei mit einer ähnlichen Wut und Wucht daherkommt wie jüngst nur „Sophiiiie!“ von Michael Hofmann, der seiner Hauptdarstellerin während ihrer nächtlichen Sauf- und Leidenstour auch nichts ersparte. Und wie Sophie am Ende zwar auf den Gleisen, aber auch im Licht liegt, so schließt auch „Narren“ unerwartet auf einer beinahe versöhnlichen Note. Ja, so ist Karneval. Aber so ist auch das Leben.

DIETMAR KAMMERER

„Narren“. Regie: Tom Schreiber. Mit Christoph Bach, Victoria Deutschmann, Hannelore Lübeck u.a. D 2003, 90 Min.