: Ein Hoch der Fichte
Endlich wird der hingebungsvollste aller Bäume einmal in höchsten Tönen gelobt
Viel Übles wurde ihr nachgeredet, in früheren Zeiten. Sogar unter Faschismus-Verdacht stand sie, ganz wie der nach ihr benannte Philosoph. Kürzlich wurde auf dieser Seite (siehe Wahrheit v. 13. 8. 2004) der alte Disput wieder neu entfacht und Harz ins prasselnde Feuer gegossen. Dazu konnten wir nicht schweigen, sondern mussten flugs für die Fichte eine Lanze brechen.
Natürlich zeigten die Fichten seit jeher auch ihre Schattenseiten. Das haben Bäume nun mal so an sich. Sie stellten – meist dreist – ein sowohl vereinnahmendes als auch affirmatives Wesen zur Schau. Unreflektiert trieben sie mit ihrer Häufigkeit Missbrauch und strebten forstliche Monopolstellungen an. Naiv dienten sie einst der Inauguration des Futurismus, indem ihre nackten und auf Linie getrimmten Kohorten als Strom- und Telefonmasten über Land zogen. Ja, zugegeben: Fichten waren oft wetterwendisch den Mächtigen und dem Zeitgeschmack ergeben. „In den Ostwind hängt die Fahnen!“ – das allein zu formulieren, wäre ohne wohlfeile, halbstarke Fichten niemals möglich gewesen.
Doch wir sollten nicht vergessen, dass die Fichten schon von alters her all ihre punktuellen Verfehlungen und charakterlichen Schwächen durch eine selbstlose, aufopfernde, hingebungsvolle Haltung gegenüber der Sozietät wettmachten. Sie schickten an hohen Festtagen ihre größten Vertreter zum Schmucke der Festplätze und rührten allein durch ihren kerzenbesetzten Anblick in weihnachtlichen Stuben die Herzen von Millionen von Kindern zu Tränen der Dankbarkeit und Freude. „Zum sechstenmal der Kerzen Strahl / Anfach’ ich auf der Fichte; / Das ist ein Schein! Herein, herein, / Und freut euch an dem Lichte!“, dichtete der Dichter Ferdinand Freiligrath.
Durchforstet man eindringlicher die Reviere der Literatur, überrascht die bedeutende Rolle, die Fichten beim Dichten schon immer gespielt haben. Uneigennützig trat auch auf dem Felde der Dichtung die Fichte in den Dienst des Menschen. Ihm seit jeher nahe stehend und nicht selten im Zwielicht durch ihre aufrechte Haltung mit ihm verwechselt, wurde sie den Dichtern zum humanoiden Prototypen, an dem sich Bewegungen und Gefühle gefahrlos erproben ließen: „Amoretten seh ich Flügel schwingen, / Hinter dir die trunknen Fichten springen / Wie von Orpheus’ Saitenruf belebt“, probte etwa Friedrich Schiller, abwartend, wie der Höllen-Fusel den angesäuselten Fichten bekam. „Der Frühling webt schon in den Birken, / Und selbst die Fichte fühlt ihn schon; / Sollt’ er nicht auch auf unsre Glieder wirken?“, denkt Goethes Faust im „Faust“ laut nach. Ob die Frühlingsgefühle den Menschen vielleicht umhauen könnten? Lieber erst schauen, wie es den Fichten ergeht. „In den feinen Dunst die Fichte / Ihre grünen Dornen streckt, / Wie ein schönes Weib“ – stellvertretend im Auftrage der Dichterin Anette von Droste- Hülshoff testend, ob der Dunst menschenverträglich ist oder vielleicht doch die Haut reizt. Kühn verglich selbige Dichterin übrigens ihre Kollegen mit „Fichten die zerspellt von Wettern“ und bekennt unverhohlen: „Will ich den Mantel dichte / Nun legen übers Moos, / Mich lehnen an die Fichte“.
Bei so großer emotionaler Nähe zwischen Mensch und Baum in der Literatur konnte es nicht ausbleiben, dass die Fichten mitunter für prosaische, unheimliche Gefühlsverwirrung sorgten, so etwa in Wilhelm Raabes „Hungerpastor“: „Wenn die Witterung es irgend erlaubte, wanderte er zu den Fichten, mit dem Gefühl, als werde ihn dort das treffen, was er neben dem hohen Schornstein mit so nervösem Bangen so vergeblich erwartete … Immer bedrückter und hoffnungsloser kehrte Hans von den Fichten heim.“ Da war es nur noch ein Schritt bis zum Irrsinn, wie er in Ludwig Tiecks „Phantasus“ einherging: „Auf dem Rücken trug er in einem festgeschnürten Sack eine schwere Ladung, im Gehen stützte er sich auf eine junge Fichte.“
Sicher lassen sich die Verächter und Verleumder der geheimnisumwitterten Fichte, die uns durch ihre vordergründige Schlichtheit und immergrünende Fröhlichkeit stets auch an das überall lauernde Abgründige gemahnt, nicht so einfach umstimmen. Unweigerlich werden sie – unserer poetischen Dokumentation zum Trotz – erneut versuchen, die Fichte zu bagatellisieren und ihren geistigen Stellenwert zu bestreiten.
Geläutert jedoch und gestärkt durch die Literatur wird jeder, der von Vorurteilen frei und durch das Argument zu überzeugen ist, die Fichte künftig mit anderen Augen betrachten müssen. Das meint auch Theodor Fontane: „Vor allem aber solle er nicht eigensinnig, unter Zeitverlust und Fährlichkeit, nach einer Tanne suchen; wenn solche nicht gleich da sei, so solle er nicht vergessen, Kiefer oder Fichte täten es auch. Und damit Gott befohlen.“ TOM WOLF