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Archiv-Artikel

Ist unsere Reisefreiheit bedroht?

JA

Denn westliche Reisende müssen sich an einen Gedanken gewöhnen, der für sie ein halbes Jahrhundert unvorstellbar war – dass sie nämlich nicht überall auf der Welt willkommen sind.

Unsere Welt wird nie mehr dieselbe sein? Nun mal halblang. Der wortmächtige Satz kam allzu schnell daher – die Türme brannten noch! –, um nicht zum Widerspruch zu reizen. Er scheint ja auch leicht widerlegbar zu sein. Wohnort, Schule, Arbeitsplatz und Zeitungskiosk sehen bei den meisten Einwohnern der Bundesrepublik noch ziemlich genauso aus wie vor zwei Jahren, Rezession hin oder her. Der Hindukusch ist weit. Und trotzdem ist es wahr: Unsere Welt ist nicht mehr dieselbe – die Reisefreiheit ist bedroht. Kleine Münze? Keineswegs.

Die Reisefreiheit ist in der Verfassung nicht erwähnt, aber in den Augen der Westdeutschen zum Symbol der neuen demokratischen Ordnung geworden – zugleich zum Symbol für die Unterdrückung ihrer Landsleute in der DDR. Sie ist das einzige Grundrecht, dessen Ausübung einfach Spaß macht. Wenn Umweltschützer bis heute dagegen kämpfen müssen, das Image verbiesterter Spaßbremser loszuwerden, liegt das auch an ihren Warnungen vor den Folgen umgebremsten Reisens. Auf keinem anderen Gebiet waren sie vergleichbar erfolglos. Auch Grüne wollten die Welt kennen lernen.

Natürlich werden weiter die Koffer gepackt, selbst für den Aufbruch in ferne Länder. Zwar sind die Buchungen von Fernreisen zurückgegangen, aber angesichts der Wirtschaftskrise muss das nicht viel besagen. Manchmal sind jedochGespräche aufschlussreicher als Statistiken: Ob im Reiseland eigentlich islamistische Gruppen aktiv seien? Gulf Air werde doch sicher nicht zum Ziel eines Anschlags? Und die Deutschen seien doch ohnehin nicht so gefährdet, da sie sich am Irakkrieg nicht beteiligt hätten? Überlegungen bei gemeinsamen Abendessen mit Freunden. Die Anschläge in Tunesien, Kenia und Indonesien zeigen Wirkung.

Die Politik verstärkt diese Wirkung, statt sie einzudämmen. In Mombasa wurde ein mutmaßlicher Terrorist gesehen, der, womöglich, nach Somalia weitergereist ist. Folge: British Airways stellt die Flüge nach Kenia ein, das Auswärtige Amt empfiehlt Deutschen, die in dem ostafrikanischen Land leben, die Ausreise. Wäre ein Verdächtiger in Brüssel auf dem Weg nach Mailand beobachtet worden: Man hätte wohl kaum Europa lahm gelegt. Der Kampf der Kulturen findet zuerst in den Köpfen statt. Westliche Reisende müssen sich an einen Gedanken gewöhnen, der für sie ein halbes Jahrhundert unvorstellbar war – dass sie nicht überall auf der Welt willkommen sind. Ablehnung, gegen die man sich nicht wehren kann, erzeugt Aggression und Sehnsucht nach einem Sündenbock. Politiker fast aller Parteien haben sich auf eine Weise geäußert, die den Eindruck nahe legte, die entführten Sahara-Touristen seien an ihrem Schicksal selbst schuld. Unabhängig davon, dass nicht einmal das vorsichtige Außenministerium von der Wahl ihrer Route abgeraten hatte.

Warum in die Ferne schweifen? Wenn der Bahnhof Zoo jedes Mal weiträumig abgesperrt wird, sobald jemand einen Koffer dort vergessen hat, regt sich in Berlin kein Protest. Die Abwehr einer vermeintlich oder tatsächlich drohenden Gefahr rechtfertigt inzwischen jede Unbequemlichkeit – und jede noch so dramatische Einschränkung eines Grundrechtes. Überlegungen mancher Länderminister, Schornsteinfeger zum Anbringen von Wanzen in der Wohnung Verdächtiger zu verpflichten, wurden von der Öffentlichkeit gleichmütig hingenommen. So gelassen wie die Tatsache, dass ein Weg beschritten worden ist, an dessen Ende die Empfehlung von Österreich oder Schweden als einzig möglichen Reisezielen stehen dürfte. Das kosmopolitische Zeitalter ist vorbei, bevor es angefangen hat. Nein, unsere Welt ist nicht mehr dieselbe. Bettina Gaus

NEIN

Denn ein USA-Flug wird derzeit gern zum Survival-Unternehmen umgedeutet. Dabei ist es doch ein wenig übertrieben, lustvolle Angst gleich zum Epochenwandel aufzubauschen.

Diese lächerliche Szene dürfte sich derzeit tausendfach ereignen. Ein Freund raunt: „Ich fliege in die USA.“ Aha. „Ich fliege jetzt in die USA!“ Gerade noch rechtzeitig verkneift man sich ein „Na, und?“. Denn schon wird beim Kneipenbier klar gemacht, welchen Mut dieser Reiseplan gekostet hat. Schließlich fliegt man ja nicht irgendwann in die USA, sondern in zeitlicher Nähe zum 11. September!

Was ist das für eine Terror-Angst, wenn man trotzdem fliegt? Schnell drängt sich der Eindruck auf, dass diese folgenlose Sorge nur den Erlebniswert steigern soll. Ein profaner Flug wird so zur Abenteuerreise, und aus einem normalen Touristen wird ein kleiner Held.

Gerade männliche USA-Reisende scheinen sich als eine Art Anti-Atta zu fühlen. Al-Qaida könnte vielleicht zuschlagen? Ha, dann wird diesen Terroristen mal gezeigt, was ein kerniger Fluggast ist. Wie das aussieht, hat Atta ja vorgemacht. Sein tödlich entschlossenes Gesicht vor dem letzten Flug, das auf einer Videokamera festgehalten wurde, hat sich weltweit ins Gedächtnis eingegraben. Und mit ähnlicher Todesverachtung schreiten nun auch Touristen durch die Sicherheitskontrollen.

Diese Selbstdramatisierung sollte man seinen Freunden durchaus gönnen. Aber es wäre doch ein wenig übertrieben, diese lustvolle Angst gleich zum Epochenwandel aufzubauschen. Nein, die Welt des Reisens hat sich nicht bleibend verändert durch den 11. September.

Und das ist auch gut so. Denn es wäre tödlich, wenn die Ängstlichen ihre Angst tatsächlich ständig ernst nähmen – und nie mehr fliegen, sondern immer ins Auto steigen würden. Wie fatal ein solcher Rigorismus wäre, ist seit kurzem empirisch genau beziffert. Das Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung hat nämlich berechnet, wie viele Menschen nur deswegen sterben mussten, weil Atta das Auto plötzlich so viel populärer gemacht hat. Um zwanzig Prozent sank die Zahl der Flüge in den USA kurz nach dem 11. September. Ergebnis: In den ersten drei Monaten kamen etwa 350 Menschen zusätzlich auf den amerikanischen Highways um. Bei den vier Todesflügen starben hingegen nur insgesamt 266 Passagiere.

Eine rationale Risikoabwägung scheint nicht zu den Stärken der menschlichen Gattung zu gehören. Sonst würden sowieso alle mit der Bahn fahren. Da passen Umwelt- und Unfallbilanz am besten zusammen. Aber das ist ja langweilig. Stattdessen sitzen alle wieder aufgeregt in den Flugzeugen und bibbern ein bisschen.

Vorher, das muss man zugeben, diskutieren sie genauso aufgeregt über mögliche Reiseziele. Nirgendwo scheint der Westler mehr sicher zu sein. Bomben in Indonesien, in Kenia, auf Jerba. Und jetzt wird man auch noch in der Sahara entführt! Stimmt es also vielleicht doch, dass die bunte Welt des Reisens ein wenig ungemütlicher geworden ist?

Diese Behauptung ist ein klassischer Fall: Sie gehört zum beliebtesten Diskurs aller Zeiten, der da titelt „Früher war alles besser“. Gerade erfahrene Weltreisende sind in diesem Duktus nicht zu schlagen. Früher, da konnte man noch auf dem Landweg nach Indien reisen („Im Iran hatte ich einen Sonnenstich.“). Da war es gefahrlos möglich, durch den Dschungel von Kolumbien zu pirschen („viel schöner als in Venezuela!“). Ja, früher.

Dafür konnte man früher nicht durch Vietnam und Kambodscha schwärmen, konnte nicht Visa-frei durch Polen radeln („Du musst dir unbedingt Zamosz ansehen!“). Wie sich die Welt öffnet und auch wieder schließt, das ist interessant für einen Kneipenabend. Aber mit Atta und seinem Todesflug scheinen nur die wenigsten dieser Entwicklungen irgendetwas zu tun zu haben. Ulrike Herrmann