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Archiv-Artikel

Zündstoff ohne Ende

Seit 20 Jahren sorgt das Atomkraftwerk Krümmel für negative Schlagzeilen. Der Verdacht, ein „Leukämie“-Reaktor zu sein, konnte aber nie belegt werden

geesthacht lno ■ Kaum ein anderes der 19 deutschen Atomkraftwerke hat so viele Schlagzeilen geliefert wie das in Krümmel bei Geesthacht. Dauerstreit um Betriebsgenehmigungen, Blockaden, Risse in Rohrleitungen, Strafanzeigen, defekte Sicherungsmuttern – Konfliktstoff um den in der Elbmarsch vor den Toren Hamburgs gelegenen Reaktor gab es oft seit seiner Inbetriebnahme vor 20 Jahren am 14. September 1983. Am meisten steht Krümmel bei vielen aber für den wissenschaftlich nicht belegten Verdacht, für eine Häufung von Blutkrebsfällen in der Umgebung speziell bei Kindern verantwortlich zu sein. Die Ursache liegt bis heute im Dunkeln.

1989 waren erstmals auf der niedersächsischen Seite der Elbe Leukämiefälle aufgefallen, seitdem ist die Sorge groß. Eine Flut von Gutachten beschäftigte sich mit dem hoch emotionalen Thema, Experten aus dem In- und Ausland nahmen Krümmel unter die Lupe. Mit Millionenaufwand wurden Tausende von Leukämiepatienten und Vergleichspersonen befragt, Muttermilch, Baumstämme, Wasser, Hausstaub und Bodenproben untersucht.

Im April diesen Jahres stellte das Bremer Institut für Präventionsforschung und Sozialmedizin fest, die erhöhte Leukämie-Zahl gehe nicht auf Emissionen des Reaktors zurück. „Das Kernkraftwerk Krümmel scheidet als Verursacher der Leukämie-Häufung in der Elbmarsch aus“, sagte Institutsleiter Prof. Eberhard Greiser.

Strahlenbiologe Jürgen Müller aus dem schleswig-holsteinischen Sozialministerium hält die Untersuchung eines Zusammenhangs zwischen den Emissionen des Reaktors und Leukämie-Häufung für ausgereizt. „Die Fakten liegen alle auf dem Tisch“, sagt Müller, seit 1991 zuständig für Strahlenschutz und Umgebungsüberwachung. „Ich halte es für praktisch ausgeschlossen, dass das Kraftwerk der Auslöser sein kann.“

Die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW), die lange zu den schärfsten Krümmel-Kritikern gehörten, richten ihren Fokus inzwischen auf die in unmittelbarer Nähe liegende atomare Forschungseinrichtung GKSS. Nach ihrer Hypothese soll von dort im September 1986 ein Atomunfall ausgegangen sein. Es seien Kontrolleure mit Strahlenschutzanzügen beobachtet worden, argumentiert IPPNW-Ärztin Helga Dieckmann. Die Lübecker Staatsanwaltschaft fand vor Ort allerdings keine radioaktiv strahlenden Kernbrennstoffpartikel.

„Ein Störfall hätte uns bekannt werden müssen“, sagt Ministeriums-Experte Müller. Die behördliche Erklärung, damals habe es nur einen Aufstau natürlicher Radioaktivität durch das Element Radon gegeben, hält Dieckmann für lächerlich: „Die Landesregierung ignoriert die Tatsachen, weil sie offenkundig den Unfallhergang vertuschen will.“

Wenn es nach der SPD gegangen wäre, die 1988 zum Atomausstieg entschlossen in Schleswig-Holstein an die Regierung kam, wäre Krümmel bereits seit Mitte der neunziger Jahre vom Netz genommen worden. Doch die SPD-Energieminister Günther Jansen und Claus Möller mussten sich den bundesweiten Realitäten beugen. 158,2 Milliarden Kilowattstunden Reststrommenge darf Krümmel nach dem Atomkonsens zwischen Bundesregierung und Energiewirtschaft noch erzeugen. Rein rechnerisch dauert das bis Anfang 2017. Sollten überlange Revisionen – die diesjährige zum Austausch von 132 der 840 Brennstäbe läuft gerade – oder Störfälle hinzukommen, könnte sich die Frist noch länger hinziehen.

wolfgang schmidt