Der Alte vom Berge

Die Frohe Botschaft per Video: Ussama Bin Laden bringt sich mit einer idyllischen Bergwanderung als moderner Zarathustra in Erinnerung

Pünktlich zum Jahrestag der Attentate läuft die USA als bestens geschmierte Bildmaschine im roten Bereich. Und macht was Ussama Bin Laden, der große Widersacher der Weltmacht? Pünktlich zum Jahrestag zeigt sich der Erzterrorist bei einer beschaulichen Bergwanderung.

Verglichen mit den farbensatten, multimedialen US-Schlachtengemälden ist diese von al-Dschasira ausgestrahlte Videobotschaft nicht mehr als eine flüchtige Skizze. Zwei grau melierte Rauschebärte in afghanischer Tracht steigen, gestützt auf ihre Wanderstäbe, vorsichtig einen Hang herab. Wir sehen grünes Gras zwischen grauen Felsbrocken, im Hintergrund blühen helle Veilchen. Man rastet, plaudert ein wenig, klettert weiter. Es ist ein alpines Idyll, in dem sich Ussama Bin Laden und sein Stellvertreter Ayman al-Zawahri hier präsentieren. Keine konspirative Wohnung wie noch vor zwei Jahren, keine bombensichere Höhle wie noch vor einem Jahr – sondern unberührte Natur unter aufreizend freiem Himmel.

Die Botschaft an die „westliche Welt“ ist ebenso schlicht wie klar: Ätsch, mich gibt’s noch. Mehr müssen die Feinde gar nicht wissen, um an ihre Machtlosigkeit erinnert zu werden. Darüber hinaus aber haben diese Bilder noch andere Adressaten – nicht nur radikale Islamisten, sondern die islamische Welt als solche. Gäbe es einen christlichen Bin Laden, so würde er verwackelte Videos verbreiten, die ihn beim Spaziergang übers Wasser zeigen. Der volkstümliche Islamist aber greift auf andere Bilder zurück, die fest im ikonografischen Gedächtnis der adressierten Religionsgemeinschaft verankert sind.

In reiner Natur präsentiert sich der Terrorist als mönchischer Dissident, der hier der von ihm bekämpften Zivilisation abgewandter nicht sein könnte. Wie ein moderner Zarathustra bedient sich Bin Laden einer manichäischen Licht-Finsternis-Symbolik, um sich als wichtigsten Gegner einer gottlosen Modernität in Erinnerung zu bringen.

Den mittelalterlichen Gnostikern des Vorderen Orients, auf die sich al-Quaida hier bezieht, ging es nicht nur um die spirituelle Vervollkommnung des Menschen, sondern um die eine sozialrevolutionäre Veränderung der Gesellschaft überhaupt. Im Islam prägte das gnostische Gedankengut vor allem die Ismaeliten. Vor fast 1.000 Jahren verbreiteten die Assassinen, gedungene Attentäter einer besonders radikalen ismaelitischen Sekte, von einer uneinnehmbaren persischen Bergfestung aus Angst und Schrecken in Europa und Asien – also weltweit. Spirituelles Oberhaupt der Tyrannenmörder war Hassan Ibn Sabbah, genannt „der Alte vom Berg“. Fast 200 Jahre lang galten die Assassinen als Geißel der Menschheit – bis sie 1256 verraten und von den Mongolen bis zum letzten Mann niedergemacht wurden.

Verrat hat Bin Laden offensichtlich nicht zu fürchten, nicht einmal die Satelliten der US-Armee. Das Video zeigt aber auch, wovor er wirklich Angst hat – dass wir ihn vergessen, dort oben auf seinem Berg. ARNO FRANK