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Archiv-Artikel

Bürger versichern, Arbeitgeber entlasten

Grüne formulieren ihre „Bürgerversicherung“: Arbeitgeberbeiträge werden eingefroren, private Kassen konkurrieren mit gesetzlichen. Joschka Fischer: „Ab 2006 oder 2007 ist eine Entscheidung angesagt“. Rot-grüner Krach ist sicher

BERLIN taz ■ Die Bürgerversicherung, räsonnierte die Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) diese Woche auf dem Sommerfest der AOK, „ist so etwas wie ‚Vermögensteuer‘. Oder ‚Jäger 90‘.“ Womit die Ministerin zwar nicht zur Orientierung beitrug, was der Inhalt einer Bürgerversicherung wäre.

Aber sie erklärte, warum die Verwirrung darüber jeden Tag zunimmt. Denn die Bürgerversicherung ist mittlerweile ein Gefäß, das von allen Interessierten mit Erwartungen, Ängsten und Vorurteilen gefüllt wird. Den einen ist die Bürgerversicherung der Weg zu mehr Gerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitssystem. Für andere bedeutet sie Planwirtschaft und ist jedenfalls kein Mittel, die Krankenversicherungen vor wachsenden Kosten zu retten.

Diese Woche nun haben die Grünen für sich Klarheit geschaffen. Es blieb dem Partei-Star Joschka Fischer vorbehalten, am Mittwochnachmittag auf einer kleinen nachmittäglichen Fachtagung in Berlin zu erläutern, welches Modell einer Bürgerversicherung die Grünen nun vertreten wollen.

Er spräche „nicht nur als Außenminister, sondern als jemand, der von der Zukunftsfähigkeit des Sozialstaats überzeugt ist“, deklamierte Fischer. Andere sehen Fischers neues Interesse an Sozialpolitik eher im Zusammenhang mit dem Abschied von seinen EU-Ambitionen. Jedenfalls aber verleiht Fischer – angeblich in Absprache mit dem Kanzler Gerhard Schröder – dem schwierigen und abschreckenden Thema das Flair der Chefsache. Und dies wird die Bürgerversicherung brauchen, schließlich wird sie gegen gewaltigen Widerstände verfochten werden müssen.

Das grüne Zukunftsmodell für das Gesundheitssystem sieht demzufolge so aus: Alle, auch Selbstständige und Beamte, zahlen in ein allgemeines Krankenversicherungssystem ein, und zwar in Prozenten von al- lem Geld, das sie verdienen – Löhne ebenso wie Mieten, Zinsen, Kapitaleinkünfte. Damit sind die Grundbedingungen einer Bürgerversicherung erfüllt: mehr zahlungskräftige Mitglieder, mehr Einkommensarten. Die grünen Besonderheiten sind folgende: Die Obergrenze, bis zu der bezahlt wird, die „Beitragsbemessungsgrenze“, braucht nicht von jetzt 3.450 Euro erhöht werden. Gesetzliche und private Kassen konkurrieren auf offenem Markt um Versicherte. Der Arbeitgeberanteil der der Krankenversicherung wird bei etwa 6,5 oder 7 Prozent „abgekoppelt und eingefroren“. Über solch eine Bürgerversicherung, sagte Fischer, „ist ab 2006 oder 2007 eine Entscheidung angesagt“. Montag wird dieses Modell im grünen Parteirat abgestimmt. Vom Tisch sind damit Überlegungen der Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt, die im August mit dem Gegenmodell zur Bürgerversicherung, den „Kopfpauschalen“ – einheitliche Versicherungsprämien für alle Erwachsenen –, jongliert hatte. Die „Kopfpauschalen“ werden maßgeblich vom Regierungs-Sozialberater Bert Rürup verfochten. Die Bürgerversicherung heutigen Zuschnitts dagegen wurde vom Ulla-Schmidt-Berater Karl Lauterbach entwickelt, der davon nun auch die Grünen überzeugt hat.

Die SPD muss sich jetzt überlegen, wie sie sich beim Thema nachhaltige Finanzierung des Gesundheitssystems erstens von den Grünen absetzt und sich zweitens nicht von ihnen treiben lässt. Den Sommer über lautete die SPD-Linie: Erst die aktuelle Gesundheitsreform vom Tisch kriegen, dann vielleicht über Zukunft reden.

Anfang der Woche jedoch entdeckte auch Olaf Scholz den Chefsachen-Faktor an der Bürgerversicherung. Der SPD-Generalsekretär überraschte mit einem Vorstoß, der als Minimallösung bezeichnet werden könnte: Private und gesetzliche Kassen sollten in einen offenen Wettbewerb geschickt werden. Nachteile einzelner Kassen durch arme Versicherte und teure Kranke könnten durch den Risikostrukturausgleich ausgebügelt werden, der zurzeit für Ausgleich nur unter den gesetzlichen Kassen sorgt.

Am 29. September, erklärte Scholz, werde der SPD-Vorstand eine Position für den Parteitag im November beschließen. Bis dahin jedoch wird sich die SPD auf keinen Fall auf ein Konzept geeinigt haben, das so weit reichen würde wie das grüne. Zwar haben sich schon linke wie rechte Sozialdemokraten für eine Bürgerversicherung à la Lauterbach ausgesprochen: Am Mittwoch etwa Andreas Nahles und Karl-Hermann Haack vom Seeheimer Kreis.

Doch rot-grüner Krach ist schon programmiert: Das „Einfrieren“ oder sogar „Ausschütten“ des Arbeitgeberanteils ist eine alte Unions-Forderung. Die Arbeitgeber derart aus der Verantwortung für steigende Gesundheitskosten zu entlassen, wird zwar die Wirtschaft entzücken. Niemals aber die Gewerkschaften. ULRIKE WINKELMANN