: Wir werden immer dümmer
taz-Sommerschule (6): Was Helmut Kohls geistig-moralische Wende wirklich bewirkt hat: Das Land schätzt Bildung immer weniger. Die Bürger teilen die Missachtung. So entsteht eine schichtenspezifische Verdummungspolitik
Es ist nicht mehr zu leugnen: Deutschland wird dümmer. Viele hatten es seit langem geahnt, und die Fußball-Europameisterschaft 2004 machte es dann offensichtlich. Mit der nachwachsenden Generation, den 20- bis 35-Jährigen, ist kein Staat, vor allem aber keine Wirtschaft, kein Wohlstand und – siehe Athen – auch kaum ein Sporterfolg mehr zu erringen.
Seit 150 Jahren galt als gesichert, dass jede nachfolgende Generation „klüger“ als die vorhergehende sei: Die Anteile der erfolgreichen SchulabsolventInnen, der im dualen System oder in Schulen beruflich Qualifizierten, der Hochschulzugangsberechtigten, sie stiegen scheinbar unaufhörlich an. Gleichzeitig sank der Anteil jener in einem Altersjahrgang, die über keinen Abschluss verfügten: im Westen Deutschlands von 17 (1970) auf 8,5 (1990) Prozent, im Osten der Republik lag er 1990 sogar bei nur 5 Prozent. Seitdem steigt er wieder, im Westen langsam (2000: auf über 9 Prozent) im Osten rapide (über 12).
Dieses Phänomen tritt in verstärktem Maße auch bei den Berufsabschlüssen auf. Zu keiner Zeit hatten „Verwahrmaßnahmen“, die theoretisch der Berufsvorbereitung oder der Berufsgrundbildung dienen sollen, tatsächlich aber meist ins berufliche Nichts führen, so einen hohen Anteil an der Berufsbildung. Die jungen Menschen wissen die Situation einzuschätzen: Sie gehen erst gar nicht hin. In keinem „Bildungs“-Angebot ist die Quote der Schwänzer höher als in diesem. Solche Bildung lohnt sich nicht. Sie führt doch nur in die Arbeitslosigkeit. Mit solchen Sprüchen lässt sich auch eigene Unzulänglichkeit kaschieren.
Dass Abiturienten mittlerweile rund 40 Prozent eines Altersjahrgangs ausmachen, kann nur wenig beruhigen. Denn wie der Essener Bildungsforscher Klaus Klemm nachgewiesen hat, führte die Zunahme von Studierenden seit den 70ern nicht zu einem Anstieg von Akademikern. Lediglich die Zahl der Studienabbrecher nahm dramatisch zu.
Nicht anders ist es in der Weiterbildung. Die Bereitschaft, sich weiterzuqualifizieren, nimmt bei den unter 35-Jährigen deutlich ab. Füllte noch 1988 diese Altersgruppe den größten Teil der Weiterbildungsseminare (51 Prozent), so waren sie 2000 dort nur noch zu einem Drittel vertreten.
Versäumte Schul- und Berufsabschlüsse sind nicht mehr nachzuholen. Dafür sorgt mittlerweile der Abbau jeglicher Angebote zur Förderung von Personen jenseits der 25-Jahres-Grenze. (Abgesehen von der EU, die noch Programme zur Alphabetisierung und zum Nachholen von Abschlüssen für unter 25-Jährige anbietet.) Die auf sechs Monate befristeten Fortbildungsquickies der Bundesagentur für Arbeit aber erlauben kein Nachholen mehr. Mit einem Male ist wieder wahr: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.
Es ist also längst nicht nur Pisa, das die Verdummung der Bevölkerung belegt. Es handelt sich um einen langfristigen Trend, dessen Beginn sehr genau datiert werden kann – Helmut Kohls „geistig-moralischen Wende“ seit 1982/83. Mit drastischen Kürzungen im Bildungsetat stoppte er den Drang der unteren Schichten nach höherer Bildung. Kohl schaffte das Schüler-Bafög ab und stellte die Förderung für Studierende auf Darlehen um – was zur Verschuldung Studierender bis über 30.000 DM und zu einem deutlichen Rückgang der Studierquote führte. Parallel kam es in den Arbeitsämtern zur Abschaffung der zweckmäßigen Förderung, von der vor allem Facharbeiter profitiert hatten, die sich zu Technikern oder Meistern höher qualifizieren wollten. Sie waren es vor allem, die für das hohe Ansehen der deutschen Industriearbeiterschaft standen.
Die finanziellen Einschnitte sind freilich nur der sichtbarste Ausfluss der demonstrativen Nicht-Wertschätzung von Bildung als individueller wie gesellschaftlicher Zukunftsinvestition durch die Politik. Wenn die Bildungsausgaben des Staats an Bedeutung verlieren, warum sollen dann in Privatbudgets dafür Mittel bereitstehen? Dass dies eine schichtenspezifische Verdummungspolitik ist, wissen natürlich jene, die den Nutzen von Bildungsinvestitionen für sich und ihre Kinder nur zu gut kennen. Ihre Karriererendite ist umso höher, je weniger Personen ins gleiche Geschäft investieren.
Alle europäischen Staaten verfolgen seit 15 bis 20 Jahren eine entgegengesetzte, nämlich offensive Bildungspolitik. Sie haben die Quoten der Hochschulzugangsberechtigten auf über 70 Prozent am Altersjahrgang (UK, Frankreich) angehoben. Sie investieren stark in die Berufs- und die Weiterbildung. Und natürlich fördern sie durchgängig die frühkindliche Bildung in Ganztageseinrichtungen.
Die Bundesregierung scheint begriffen zu haben, dass Bildungsförderung überlebenswichtig für die Gesellschaft ist. Offensichtlich gelingt es aber nicht, gemeinsam mit den Ländern Politik für die Zukunft zu machen. Und mit den Arbeitgebern auch nicht, wie der gescheiterte Ausbildungspakt zeigt. Die Ergebnisse werden in 15 Jahren zutage treten. Solange würde es übrigens dauern, die Versäumnisse der letzten 20 Jahre aufzuarbeiten. CHRISTOPH EHMANN
Der Autor (61) ist Generalsekretär von Campus Europae, der European University Foundation. In der Sommerschule gehen AutorInnen der Frage nach, wohin die Bildungsreformen in Kitas, Schulen und Hochschulen führen