: Die Macht der Keifer
DAS SCHLAGLOCH VON MICHAEL RUTSCHKY
Der Fehler liegt im System politischer Anmaßung. Deshalb kann es auch keinen Mittelweg geben. Die Kultusministerkonferenz und ihre Gremien wären mit einem Kompromiss genauso überfordert wie mit der Reform selbst. Die Politik in Deutschland muss endlich die Grenzen ihrer Kompetenzen respektieren und sich auf ihre Kernaufgaben beschränken.Harald Jähner in der Berliner Zeitung vom 11. August 2004
In der guten alten Zeit durchschauten wir die Gesellschaft bis auf den Grund. Insbesondere konnten wir die politischen Akteure entlarven, indem wir die wahren Motive aufdeckten, die sie zu ihren Handlungen trieben. Aber auch die Stimmungen und Betätigungen der Massen waren leicht zu deuten, wenn man über das entsprechende Instrumentarium verfügte. So bedeuteten beispielsweise Hunde Kinderersatz, Autofahren war der Ersatz für Geschlechtsverkehr, Arbeit und Konsum waren der Ersatz für das richtige Leben …
Überhaupt eignete sich das Konzept des Ersatzes vorzüglich für die kritische Dekonstruktion. Elegant entlarvte der junge Enzensberger den beginnenden Massentourismus als Ersatz für eine wahrhaft politische Freiheitsbewegung. Und wie schaut es heute mit dem Ersatz aus?
Bekanntlich benötigt die Bundesrepublik in der Wirtschafts- und Sozialpolitik tief greifende Reformen. Was die Obrigkeit diesbezüglich einleitet oder gar durchsetzt, empört freilich das Publikum auf Anhieb. Versucht man die Einwände zu sortieren, kommt man bald darauf, dass sie im Grunde gegen die Umbauten insgesamt gehen. Denn sie setzen an der falschen Stelle an, der Nachfrage statt dem Angebot (oder umgekehrt), sie benachteiligen die einen und privilegieren die anderen (oder umgekehrt). Das empörte Publikum möchte meinen, dass die Regierung grundsätzlich alles falsch macht – das zu meinen ist auch deshalb praktisch, weil die Reformgesetze en détail zu studieren viel zu viel Zeit und Arbeit kostet, und man muss doch schnell machen mit seiner Wut.
Unglücklicherweise haben die Oppositionsparteien den Gesetzen zugestimmt, sodass sie jetzt die Publikumsempörung nicht nutzen können – nur kurzfristig erwog der sächsische Ministerpräsident, am Protestmarsch gegen sich selbst teilzunehmen. Doch hatten andere Ministerpräsidenten aus der CDU/CSU einen pfiffigen Einfall, wie der Volkszorn zu operationalisieren wäre: Sie griffen auf ein Reformprojekt zurück, das bereits Jahre vorher die entsprechende Empörung erweckt hatte, die Sache mit der deutschen Orthographie. Wenn wir schon nicht gegen Hartz IV einschreiten können, dann doch wenigstens gegen die Rechtschreibreform: Da haben wir den klassischen Fall einer Ersatzhandlung und -befriedigung, wie wir sie früher in der guten alten Zeit allüberall entdeckten!
Das Publikum beteiligte sich wieder mit Begeisterung an der Ersatzhandlung; jeder Leserbriefschreiber kramte sofort seine drei Exempel heraus, die bewiesen, wie die Reformer wirklich von aller Vernunft und jedem Sprachgefühl verlassen gewesen waren. (Im Übrigen verhielt es sich so ähnlich wie bei den Sozialreformen: Niemand überblickte das neue Regelwerk in toto – aber die Wut darüber musste man rasch rauslassen.)
Die Rechtschreibreform eignete sich deshalb so vorzüglich für eine Ersatzhandlung, weil es hier möglich schien, das Ding als Ganzes loszuwerden. „Rücknahme“ lautete die Forderung, und sie erweckt den Eindruck, man könne mit dem sprichwörtlichen Federstrich in die gute alte Zeit, in den seligen Status quo ante, in den frei wuchernden altdeutschen Wald heimkehren – bevor die Reformer ihn verschandelten. Die „Rücknahme“ der Rechtschreibreform wäre der Ersatz für die „Rücknahme“ der Hartz-Reformen, die der Ministerpräsident Wulff und die Seinen unmöglich fordern können.
Dann traten Aust und Döpfner hinzu und schlossen sich der Gegenreformation des bekannten Frankfurter Mitherausgebers an – der prompt dem alten Enzensberger, wie ich mir habe erzählen lassen, eine neue Gelegenheit zum Keifen gab (kein schöner Anblick). Ich warte auf einen Rundbrief des PEN-Clubs an seine Mitglieder, der selbstzufrieden unterstreicht, dass man seit je die „Rücknahme“ der Rechtschreibreform (die Rückkehr in den frei wuchernden altdeutschen Wald) fordere – endlich hätten sich Mächtige aus Politik und Presse angeschlossen. Lässt sich auch hier was anfangen mit dem Konzept der Ersatzhandlung und -befriedigung?
Der korrekte Terminus ist schon verschiedentlich gefallen: Putsch. Wir kennen das bloß vom Militär, das sich, ohne dazu legitimiert zu sein, in den Besitz der Regierungsgewalt bringt, weil es angeblich das Wohl des Volkes und der Nation besser erkenne und reiner verwirkliche als die (korrupten) Berufspolitiker. Das ist natürlich kein Ersatz, das ist die Sache selbst, wie nach einem Militärputsch viele blutig erkennen müssen.
Was die Operation von Aust und Konsorten auszeichnet: dass sie damit Entscheidungsgewalt an einem Ort beanspruchen, wo sie ihnen nicht zusteht. Das gilt natürlich auch für all die Belletristen, die anlässlich der Rechtschreibreform sich zum wahren Herrn der Sprache aufspielten. Oder zu ihrem untertänigsten Diener, der die zartesten Wünsche und Stimmungen der Hohen Frau vernimmt – während die Kultusminister, diese Barbaren, sich Korsetts und andere Einschnürungen für das hochempfindsame Wesen ausdenken.
Belletristen sind von Natur aus keine Spezialisten für Orthographie; ich kenne keinen, der regelmäßig den Duden benutzt. Die meisten halten idiosynkratisch an persönlichen Schreibungen fest, die erst Lektoren und Redakteure und Rechtschreibprogramme zugunsten des Standards beseitigen. Wieso sich in jenen Idiosynkrasien der Geist der Sprache selbst (o. s. ä.) äußert, ist nicht einzusehen; vor allem verraten die persönlichen Schreibungen, dass die Orthographie – anders als Grammatik und Syntax – Sache der Konvention ist. Man kann es so, aber auch anders machen. Der junge Enzensberger veröffentlichte seine Gedichte in radikaler Kleinschreibung. Was sie keineswegs inkommunikabel machte.
Der Putsch von Aust und Konsorten wird ihnen (und den assoziierten Literaten) die Entscheidungsgewalt der politischen Instanzen, der Kultusminister, nicht verschaffen. Und das ist auch gut so; wer das schulische Curriculum bestimmt, ist klar und verlässlich geregelt – dass hier nach Belieben Springer oder Dr. Krachmacher hineinregieren, können wir unmöglich wünschen.
Als Ersatzhandlung und -befriedigung lehrt der Putschversuch von Aust und Konsorten, dass die Medien nicht nur beobachten und rezensieren, sondern dass sie entscheiden wollen. Sie verlangen nach direkter politischer Macht – was dem Publikum insofern gefällt, als ihm die umständlichen Wahl- und Legitimierungsverfahren oft viel zu langsam und zu langweilig erscheinen. Vor allem zu langweilig. Warum heißt der Bundeskanzler immer noch Schröder? Wenn es nach den Medien ginge, hieße er längst Merkel. Nicht die Politik, lieber Herr Jähner, muss endlich ihre Grenzen respektieren; die Medien sollten ihren Willen zur Macht erkennen und zu welchen Ersatzhandlungen und -befriedigungen er sie treibt.
Fotohinweis: Michael Rutschky lebt als Publizist in Berlin.