: Militärbastion unter ziviler Leitung
Mit der Berufung eines Zivilisten zum Chef des Nationalen Sicherheitsrats wird der politische Einfluss des Militärs in der Türkei zurückgedrängt. Damit will Ankara seine Chance auf Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit der EU verbessern
ISTANBUL taz ■ Am Montagabend fiel in der Türkei eine seit langem mit Spannung erwartete Entscheidung. Erstmals in der jüngeren Republikgeschichte wird der Vorsitzende im mächtigen Nationalen Sicherheitsrat ein Zivilist sein. Yigit Alpogan, derzeitiger Botschafter in Athen, wird unmittelbar nach seiner Bestätigung durch Präsident Sezer sein neues Amt antreten.
Für die Türkei ist dies der Schlusspunkt einer spektakulären Entwicklung, die Mitte 2003 begann. Damals hatte die Regierung begonnen, die Zuständigkeit des Nationalen Sicherheitsrates neu zu bestimmen und das Militär aus dem politischen Entscheidungsprozess zu drängen.
Seit dem Putsch 1980 war der vom Militär dominierte Nationale Sicherheitsrat die letzte Instanz der türkischen Politik. Entscheidungen, die der Nationale Sicherheitsrat traf, hatte die Regierung umzusetzen. Dabei erstreckte sich die Zuständigkeit des Rates nicht nur auf Fragen der Außen- und Verteidigungspolitik. Über den Sicherheitsrat machte das Militär auch politische Vorgaben in der Auseinandersetzung mit den Kurden oder den islamistischen Strömungen. Bis Mitte 2003 verfügte der Nationale Sicherheitsrat über einen bürokratischen Apparat, der den des Premiers übertraf.
Mit der Berufung eines Zivilisten an die Spitze des Gremiums erfolgt nun der entscheidende Schritt, um aus dem ehemaligen politischen Instrument des Militärs ein – anderen europäischen Ländern vergleichbares – beratendes Gremium zu machen. Der neue Sekretär Yigit Alpogan ist ein Karriere-Diplomat, der nach verschiedenen Stationen im Außenministerium seit 2001 den wichtigen Botschafterposten in Athen besetzt. Alpogan spielte eine wichtige Rolle bei den Zypern-Verhandlungen Anfang des Jahres. Seine Ernennung ist gleichzeitig ein Signal, dass die Zypern-Frage und die Beziehungen zu Griechenlang weiter hohe Priorität in Ankara haben.
Auch der Zeitpunkt für die Ernennung Alpogans ist kein Zufall. Anfang September wird der für die Erweiterung zuständige EU-Kommissar Günter Verheugen für mehrere Tage in die Türkei kommen. Dies wird die letzte Gelegenheit für die türkische Regierung, den Stand des Reformprozesses und die Implementierung der im letzten Jahr verabschiedeten Gesetze zu präsentieren, bevor die EU-Kommission Ende September ihren entscheidenden Bericht für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abschließen wird.
Die Bestellung eines Zivilisten zum Generalsekretär des Nationalen Sicherheitsrates ist ein wichtiger Punkt des Implementierungsprozesses. Andere Schritte wird Verheugen in den kurdisch besiedelten Regionen des Landes direkt in Augenschein nehmen. Er will sich eine der neuen Schulen für kurdische Sprache anschauen und den Bürgermeister von Diyarbakir, Osman Baydemir, treffen.
Dieser beabsichtigte Besuch hat bereits im Vorfeld zu heftigen Kontroversen geführt, nicht zuletzt unter den EU-Botschaftern in Ankara. Baydemir war heftig kritisiert worden, nachdem er die Familie eines PKK-Militanten besucht hatte, deren Sohn in einem Gefecht von der Polizei erschossen worden war, nachdem dieser seinerseits zuvor einen Parkwächter erschossen hatte. „Bürgermeister besucht Familie eines Terroristen“, wurde Baydemir vorgeworfen.
Seit die PKK Anfang Juni ihren Waffenstillstand für beendet erklärt hat, kommt es in den kurdischen Gebieten wieder fast täglich zu Zusammenstößen zwischen Militär und PKKlern. Auch die Bombenanschläge in Istanbul von Dienstag vergangener Woche, zu denen sich eine Gruppe kurdischer „Freiheitsfalken“ bekannte, gehen nach Erkenntnissen der Polizei auf das Konto der PKK.
JÜRGEN GOTTSCHLICH