: Nicht mehr vom Mond
Englisch ist noch immer die Lingua franca des internationalen Pop. Und trotzdem: Das neue französische Chanson ist in Deutschland ein ganz klein wenig in Mode gekommen
von REINHARD KRAUSE
Das Branchenblatt MusikWoche stöhnte jüngst, dem französischen Tonträgermarkt gehe es – im Vergleich zum angeschlagenen deutschen – geradezu gut. Dort würden sogar noch Zuwächse erzielt, selbst im Export: „Die Franzosen konnten ihre Auslandsverkäufe nach Stückzahlen von 1993 bis 2002 gut und gerne versechsfachen.“
Wie „die Franzosen“ dieses Wunder vollbracht haben, wurde auch verraten: Sie haben eine Radioquote, nach der vierzig Prozent des Programms mit französischsprachigem Liedgut zu füllen sind, die Hälfte davon mit aktuellen Produktionen und Nachwuchsacts. Ferner habe sich bezahlt gemacht, dass in etlichen Ländern Exportbüros eingerichtet wurden (etwa das Bureau Export de la Musique in Berlin), die unter anderem die Pressearbeit für französische Musiker koordinieren. Und dann – hier wird der Artikel etwas kleinlaut – sei die Computerdichte in Frankreich erst jetzt so groß, dass Raubkopieren zu einem wirtschaftlichen Problem werde.
Doch das kleine dirigistische Verkaufswunder aus Frankreich dürfte nur höchst beschränkt auf den deutschen Markt durchgeschlagen haben. Tatsächlich gibt es im Bereich des Chansons eine ganze Reihe junger Künstler, die derzeit vielversprechende Debüts vorlegen (etwa Vincent Delerm, Albin de la Simone oder die Gruppe Holden) oder bereits eine gefestigte Karriere aufweisen (wie Dominique A., Françoiz Breut, oder Mathieu Boogaerts). Nennenswerte Verkaufsziffern indes wiesen hierzulande bislang vor allem französische Elektrobands wie Daft Punk oder Air auf – mit englischen Titeln …
Damit ein französischsprachiges Album auch in Deutschland erscheint und schließlich sogar wahrgenomen wird, muss es nicht nur exzeptionell gelungen sein, es braucht auch unbedingt einen medialen Mehrwert. Etwa dass der Künstler ein Skandalautor namens Houellebecq ist oder die Künstlerin im Hauptberuf das Supermodel Carla Bruni. Oder dass sie einen spektakulären Umweg einschlägt wie Jane Birkin. Deren Live-CD „Arabesque“ mit Gainsbourg-Songs im arabischen Gewand brauchte fast ein Jahr, um über allerlei Weltmusiksendungen auch in Deutschland Airplay und einen Vertrieb zu finden. Und zwar nicht so sehr als originär französische Produktion (die Songs auf „Arabesque“ singt die Birkin zum Teil seit Jahrzehnten), sondern als willkommener Beitrag vom west-östlichen Multikulti-Diwan.
Gleichwohl hat das Popchanson in den vergangenen Jahren tatsächlich eine Reihe von erklärten Fans gefunden, die als DJs oder Labelbetreiber auch „multiplikatorisch“ aktiv wurden. Mit der Folge, dass Französisches derzeit für manche ein kleines bisschen angesagt ist und für das breitere Publkikum zumindest nicht mehr unter „Musik vom Mond“ firmiert. Erst kam ein knappes Dutzend Easy-Listening-Kompilationen mit Oldies von Bardot bis Polnareff, von Sheila bis Chantal Goya, dann kam der Sampler „Le Pop“ und bot einen Überblick über die so genannte Nouvelle Scène des französischen Chansons der letzten Jahre. In ein paar Tagen erscheint „Le Pop 2“ mit aktuellen Chansons.
Und siehe da: Die meist fragil tönenden jungen Leute aus Frankreich haben sich qua Anknüpfung an den Sixties-Pop einige Sympathien erwerben können. Ein Erfolg, der auch darauf zurückzuführen sein dürfte, dass die Fans – dem Internet und der Visitenkarte sei es gedankt – nicht länger auf (häufig erfolglose) Importdienste deutscher Plattenläden angewiesen sind.
In der Zwischenzeit hat diese Nouvelle Scène sogar einen Star hervorgebracht, der auch in den deutschen Feuilletons von Spiegel bis FAS als legitimer Enkel von Serge Gainsbourg und Burt Bacharach gefeiert wurde: Benjamin Biolay, dreißig, Multiinstrumentalist und nebenbei Gatte der Schauspielerin Chiara Mastroianni. Ein Wunderknabe mit Catherine Deneuve als Schwiegermama – so einem ist auch international Aufmerksamkeit gewiss.
Biolay ist der französischste unter den neuen auteurs-compositeurs-interprètes. Bei ihm gibt es kein Schielen auf angelsächsische Rock-, Pop- oder Underground-Posen und Hippness-Gesten. Endlich ist Schluss mit dem „Chanson Rock“, das selten mehr war als ungelenkes Imitat. Biolays Alben sind auf perfekte Weise neoklassisch.
Vor allem aber ist Biolay ein begnadeter Arrangeur. Bei ihm treffen Basslinien wie aus einem Gainsbourg-Song der „Je t’aime(moi non plus)“-Phase auf eingestreute Drumphrasierungen aus Trip- bis HipHop, Mandolinen auf Blechbläser, Marilyn-Monroe-Filmsong-Schnipsel auf Orgeltupfer. Nicht zu vergessen der verschwenderische Einsatz von Streichern. Und dazu Biolays Stimme, die immer so intim klingt, als sei sie für das After-Midnight-Programm eines schicken Nachtclubs designt worden, manchmal aber auch regelrecht vermurmelt. Biolay singt wie mit halber Lunge – was bei einem ausgebildeten Posaunisten doch etwas überrascht.
Diese stimmliche Verhauchtheit ist der einzige Makel, den die Musikkritier links und rechts des Rheins ausmachen wollten. Was Biolay im Frühjahr veranlasste, bei der Promotion seines zweiten Albums, „Négatif“, ein wenig verschnupft darauf hinzuweisen, die neuen Songs seien textlich tiefer, musikalisch einfacher – und vor allem nicht mehr so „violinig“ wie auf dem Debüt „Rose Kennedy“. „Ich habe mich dafür gehasst“, vertraute er dem Magazin Les Inrockuptibles an, „dass ich so kränklich und zwitscherig rüberkam.“ Nun, geradezu machohaft klingt „Négatif“ auch wieder nicht, zum Glück.
Ähnlich zart, darüber hinaus aber auch noch herzerfrischend schüchtern ist das Auftreten von Keren Ann, 29, gewissermaßen Biolays weiblichem Alter Ego. Den großen Durchbruch erzielten die beiden, als sie 2001 für den steinalten, aber alles andere als greisen Henri Salvador einige Titel schrieben und dem Doyen des Chansons mit „Jardin d’hiver“ zu einem gloriosen Comeback verhalfen.
Wenn es ein allgemeines Kennzeichen der Nouvelle Scène gibt, so ist es die ausgiebige und befruchtende Zusammenarbeit unter- und füreinander. Die Kooperation von Keren Ann und Biolay war bislang derart symbiotisch, dass es oft schwer fiel zu unterscheiden, wer nun genau welchen Beitrag geleistet hatte. Nach zwei Alben, die in ihrer Innerlichkeit viele Kritiker an Françoise Hardy denken ließen, hat Keren Ann mittlerweile ein englischsprachiges Album mit komplett neuem Material angekündigt. Die Tochter eines russischstämmigen Vaters und einer Niederländerin klingt in English – ein Song wurde vorab veröffentlicht – sogar noch souveräner als en français. Bleibt abzuwarten, ob sie als Folksängerin international schneller Fuß fassen kann denn als unangefochtene Heldin des neuen französischen Chansons.
Womöglich wird ihr dieser Titel aber auch bald von einer anderen Sängerin gemopst, deren Debüt allgemein mit einiger Skepsis entgegengesehen wurde. Man stelle sich nur zum Vergleich einmal vor, Claudia („Cloodia“) Schiffer sänge! Ihrer Modelkollegin Carla Bruni indes gelang mit dem Album „Quelqu’un m’a dit“ ein Scoop. Nicht nur hat La Bruni ein angenehm warmes Organ und die Gabe, hübsche, sommerliche Songs zu schreiben, die von Louis Bertignac (Ex-Téléphone) sparsam und – darf man das Wort benutzen? – delikat instrumentiert wurden. Ihr größter Trumpf: Carla Bruni, 34, kann es sich leisten, das Singen wie einst Gainsbourg als art mineur, als mindere Kunst, zu betreiben. Selten wurden Lieder mit so nonchalant unterspielendem, fast wegwerfendem Gestus dargeboten. Welche Genugtuung nach den Erfolgen einer Gefühlsmaschine wie Patricia Kaas, dass es „Quelqu’un m’a dit“ in Deutschland inzwischen bis ins Midprice-Sortiment geschafft hat. Ein Sieg gegen das Klischee.
Philippe Katerine, ebenfalls 34, ist schon etwas länger im Business – und den jüngeren KollegInnen zwar nicht unbedingt „nach verkauften Stückzahlen“, wohl aber an Karrierewindungen voraus. Sein Album „Mes mauvaises fréquentations“ war der Spex 1996 noch die wohl kürzeste Plattenbesprechung ihrer Geschichte wert. Tenor des Zwölfzeilers: So stellen sich Franzosen wohl Easy Listening vor. Da war man der vordergründigen Niedlichkeit des Herrn aus der Vendée auf den Leim gegangen. Eine Falle, aus der sich Katerine auf seinen Folgeplatten zu befreien suchte.
Zwar streifen seine Chansons noch immer gern das Kinderlied und treiben ein böses Spiel mit falscher Naivität, dafür aber widersetzt sich Katerine jedem zu leichten Hörgenuss, indem er in seine Aufnahmen allerhand Studiogeplapper und unambitioniert geträllerte Probeaufnahmen einstreut. Eine etwas anstrengende Verweigerungshaltung, die sich Monsieur leider nur verkneift, wenn er für befreundete Sängerinnen schreibt. 2001 erschien etwa „Azul“, ein überwiegend portugiesischsprachiges Bossa-Album seiner Lebensgefährtin Hélèna, das in Deutschland – typisch! – beim Jazzlabel Verve unterkam.
Katerines aktuelles Album heißt „8ème ciel“, achter Himmel. „Ich mache aus meinem Leben“, singt er da, „ein Meisterwerk, das man alle zwei, drei Jahre für hundert Francs besichtigen kann.“ Hundert Francs, das ist der alte Durchschnittspreis für eine CD. Das eigene Leben als Tag des offenen Denkmals – das klingt nicht eben glücklich. „Am 7. April 2009 werde ich nackt über den Pont Neuf laufen und schreien: ‚Tod der Poesie!‘ Ich bin ein freier Mann. Ich mache aus meinem Leben ein Meisterwerk, indem ich reinen Alkohol trinke – an Orten, die sehr abstoßend sind. Ich bin ein freier Mann.“
Tatsächlich ist Katerine – auch er nicht eben mit einer vor Energie berstenden Stimme gesegnet – so frei, sein Organ immer mal wieder für skurrile Eskapaden elektronisch zu verfremden. Auf „8ème ciel“ etwa kreiert er so die Figur des greisen Général Fifrelin, General Pfifferling („Ich war noch mit Charles Trenet bekannt – bevor er starb und beerdigt wurde“), sowie ein „achteinhalbjähriges“ Mädchen namens Boulette, das in der Art des frühen New Wave plärrt: „Die Krankenschwester hat gesagt, ich soll rufen, wenn ich urinieren muss. Aber sie ist zu weit weg, und ich kann nicht schreien. Ich bin verdonnert, in die Laken zu pissen.“
Katerine, ein französischen Helge Schneider? Oder handelt es sich um die Aufarbeitung seiner Herzoperation im Kindesalter? Die Exportchancen jedenfalls sind gering. Macht nichts. Soeben erschien übrigens sein Soundtrack für den Film „Un homme, un vrai“ mit wunderbar schwebendem Light Jazz. Zum Glück gibt’s das Internet!
Vom 18. bis 21. September finden in der Kulturbrauerei, Berlin-Mitte, die Francofolies statt. Im Programm neben anderen: am Freitag Benjamin Biolay sowie am Samstag Dominique A. Infos unter www.francofolies-berlin.com REINHARD KRAUSE, 42, ist taz.mag-Redakteur