: So nah, der Nachbar
Wer nur hat ausgerechnet diese Platte, dieses einzigartige Stück aufgelegt?
Schließlich lag er im Bett und las. Da hörte er von ferne Musik, die Andeutung von Musik. Zwischen die Zeilen, zwischen die Worte des Buches schwebten leichte Akkorde eines E-Pianos, webten ein Netz, das sich allmählich über den Text legte, den Text verschwinden ließ, verhüllte in wunderbarer Weise. Aha, dachte er wenig später, mein Nachbar hat sich eine CD aufgelegt oder eine Schallplatte. Aha, dachte er ein weiteres Mal, als er das Stück erkannte. Brian Eno. Dieses eine Stück, wie hieß es doch gleich? Von der Platte „Before and after Science“: „Here we are / Stuck by this river / You and I / Underneath a sky that’s ever falling down, down, down / Ever falling down.“
Er sann diesem Zufall hinterher. Kaum zu glauben, da besitzt also noch jemand anderes diese Platte. Das hätte er nie für möglich gehalten. Jedes Mal, wenn er sie auflegte – und das letzte Mal muss mindestens sieben oder acht, wenn nicht zehn oder zwölf Jahre her gewesen sein – war es seine Musik, seine eigene, eine einzige, einzigartige, nur für ihn gespielt. Es war immer noch außerhalb jeder Wahrscheinlichkeit, dass irgendjemand anderes auf der Welt diese Schallplatte damals gekauft haben konnte.
Ach was, Quatsch. Als ob er der Einzige hätte gewesen sein können, der die Platte gekauft hatte. Was er sich da wieder einbildete. Kann man sich das vorstellen, den Brief der Plattenfirma an Brian Eno, in dem ihm die Verkaufszahlen für seine LP „Before and after Science“ mitgeteilt werden, und dann steht in der Rubrik Verkauft „1 Exemplar“? Man wird ja noch mal fragen dürfen. Nein, darf man nicht. Jedenfalls nicht so. Denn diese Sekunden jetzt bewiesen endgültig, dass ein zweites Exemplar verkauft worden war. Ausgerechnet. Ausgerechnet von jemandem, der Wand an Wand mit ihm wohnte. „Through the day / As if on an ocean / Waiting here / Always failing to remember / why we came, came, came: / I wonder why we came.“ Wie im Schlaf konnte er den Text mitsingen.
Aber, kalkulierte er weiter, vielleicht hat der Nachbar die Platte gar nicht vor zig Jahren gekauft, so wie er, sondern erst vor drei Tagen vielleicht überhaupt zum ersten Mal Musik von Brian Eno gehört und sich dann einen Tag später eine möglicherweise inzwischen auf CD erschienene Wiederveröffentlichung gekauft.
Wie hießen die Nachbarn überhaupt? Kröger, Krause, Kramer? Links, rechts, oben, unten? Woher schlängelten sich die Töne an sein Ohr? Wie hieß das Stück überhaupt? Den Titel hatte er vergessen, konnte sich zumindest nicht erinnern. Ist dies dasselbe wie vergessen? Es fiel ihm nicht ein.
Lieber dachte er über seine Verwunderung nach; über seine, jawohl, man musste es Egozentrik nennen, schonungslos, die er wohl niemals loswerden würde, nämlich in komplementär egozentrischer Weise überhaupt überrascht zu sein, wenn ein anderer anderer Mensch eine bestimmte Schallplatte ebenso innig verehrte wie er selbst. „You talk to me / as if from a distance / And I reply / With impressions / chosen from another time, time, time / From another time.“ Immer der Einzige sein. „Der Einzige und sein Eigentum“. Von Stirner. Das Buch stand auch noch ungelesen im Regal.
Das nächste Stück auf der Platte hatte begonnen, eines ohne Gesang. Drehen. Beim Plattenspieler konnte man das Drehen sehen, beim CD-Gerät nicht mehr. Gedanken, die sich drehen, kreisen – um welchen Mittelpunkt eigentlich? Und haben die auch ein Loch in der Mitte?
Und jetzt, da ein anderer seine zentralbeheizte Hölle mildert oder lindert mit Enos Musik, kränkt ihn das, ist er fast empört, fühlt sich enteignet. Jemand will seine Platte klauen, den Gebrauchswert und den Gefühlswert, den sie für ihn hat, entwerten, zu einer Null machen mit einem Loch in der Mitte …
Aber könnte es nicht auch eine angenehme Vorstellung sein, festzustellen, dass es noch andere Menschen gab, die Brian Eno schätzen, denen es wohl tat, sich nachts von seiner Musik …
Ende. Die Musik war vorüber. Es klackte am anderen Ende des Zimmers. Wie wenn ein Kassettenrekorder am Bandende die Play-Taste löst. Ein Blick genügte. Sein Kassettenrekorder war eingeschaltet. Er entsann sich nicht, ihn gestartet zu haben. Und noch weniger, wann er die Platte, dieses einzigartige Stück, aufgenommen hatte.
Er stand auf, spulte die Kassette ein paar Zehnerzahlen zurück, drückte die Play-Taste und drehte den Lautstärkeknopf eine Spur nach rechts, um sich zu vergewissern, dass er es selbst gewesen war, der Eno aufgelegt hatte, ohne es auch nur zu ahnen.
Es existierte kein Nachbar, der Brian Eno hörte. Für einen sekundenkurzen Moment, vorhin, als er das Stück erkannte, als es ihn ertappte, war er glücklich gewesen, fühlte es sich doch an, als ob ihn die Musik aus dem Nirgendwo erreiche. So einfach ist das, dachte er, als er den Verstärker ausknipste und zurück ins Bett stieg. DIETRICH ZUR NEDDEN