Kapitalisten zur Sonne, zur Freiheit

Schriften zu Zeitschriften: Das aktuelle Sonderheft der Zeitschrift „Merkur“ widmet sich der Frage: „Kapitalismus oder Barbarei?“ Den westlichen Globalisierungskritikern wird entgegengehalten, dass nur kapitalistische Verhältnisse der Dritten Welt helfen können – so ungemütlich sie auch sind

von JAN FEDDERSEN

Auch die Berichterstattung vor und während der Konferenz der Welthandelsorganisation WTO im mexikanischen Cáncun lebt vom moralischen Alarm, gar von einem generellen Verdacht: Der Kapitalismus, ja die Marktwirtschaft überhaupt sind gegen das, was arme Menschen wollen können, egal ob in der so genannten Ersten oder Dritten Welt. Die Armen werden ausgebeutet (überall), in Pein gelockt (Länder, die den Multis trauen) oder Elend gestürzt (die mit den Multis ihre Erfahrungen gemacht haben).

Die Zeitschrift Merkur verweigert sich in ihrer aktuellen Sonderausgabe diesem bis in den mitteleuropäischen Mainstream ihrer Eliten als Axiom angenommenen Glauben vollständig. „Kapitalismus oder Barbarei?“ heißt der Titel. Wobei schon diese Überschrift im alternativen (und postmarxistischen) Milieu als Unverschämtheit gelesen werden wird, dreht er doch die Phrase von „Sozialismus oder Barbarei“ einfach um. Tatsächlich kann das Fragezeichen nur als Köder dechiffriert werden, denn schon im Vorwort der Herausgeber Kurt Scheel und Karl Heinz Bohrer wird festgestellt: „Dass der Sozialismus sich als barbarisch erwiesen hat, hat den Kapitalismus bei den westlichen Intellektuellen nicht beliebter gemacht.“ Im Gegenteil: Gerade die Antiglobalisierungsbewegung – die so unterschiedliche Lobbyisten wie die westdeutsche Gewerkschaft ver.di, den französischen Gutnahrungsprotagonisten Jean Bové wie koreanische Bauern vereint – beweist, dass die hoffnungsfrohe (wenn auch nach christlichen Vorstellungen unmoralische) Botschaft des Karl Marx nicht mehr gern erinnert wird: „An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander.“ Und das meinten die Befreiungstheoretiker vom Klassenkampf durch die Bank wohlwollend: auf dass alle zwanghaft geldlosen, seelisch symbiotischen, familialen, clanhaften, mafiotisch voneinander in Abhängigkeiten gehaltenen Lebensverhältnisse der Garaus gemacht werden kann.

Anders gesagt, und so muss diese Ausgabe des Merkur studiert werden: Marx hätte sich über die Zwecke der Antiglobalisierungsguerilleros lustig gemacht. Etwa mit den Worten: viel Wind um Verhältnisse, an deren Tilgung gerade die Dritte, noch nicht kapitalistisch durchdrungene Welt heftiges Interesse haben müsste. Denn Kapitalismus stiftet Freiheit, ja begründet Wohlstand.

Besonders eindrücklich beweist Rainer Hank in seinem Text, dass der globale Kapitalismus gerade nicht zu mehr Ungleichheit in der Welt führt, sondern dass sich im Gegenteil gerade dort die Ökonomie entwickelt, wo Märkte sich öffneten, wo verlässliche (rechtsstaatliche) Verhältnisse in einer liberalen Gesellschaft herrschen – auch und gerade zum Wohl jener Menschen, die bislang nichts haben.

Hank zitiert am Ende einen indischen Ökonomen, der sehr kühl zu dem Schluss kam, dass die Globalisierungskritiker im Grunde Protektionisten gegen die Dritte Welt sind, denn sie haben Angst davor, dass die Zollgrenzen für Produkte aus afrikanischen oder asiatischen Ländern fallen, schließlich sind sie billiger zu haben als jene, die von tarifvertraglich abgesicherten Proleten in der Ersten Welt gefertigt werden. Globalisierung der Marktwirtschaften, so bündelt Hank seinen Kollegen Surjit S. Bhalla, sei eine demokratische Kraft, die zu jenen nicht freundlich ist, die „auf ungerechtfertigte Weise“ sich zu den Besserverdienenden zählen – also fast alle Menschen in Mitteleuropa, gemessen an der Durchschnittskaufkraft beispielsweise in Kenia oder Thailand.

Eine Fülle anderer Texte orchestriert diese These. Sie wird dahingehend erweitert, dass der Kapitalismus mehr gutes Leben gestiftet hat als jede andere Ökonomie (Richard Herzinger), mehr Individualität und Selbstbestimmung (Jörg Lau in seinem furiosen Lob auf die Entfremdung), mehr Freiheit überhaupt (Michael Rutschky am Beispiel von Geschenken über den psychisch entscheidenden Unterschied zwischen Löhnen und Naturalien). Andere Texte wenden sich gegen den Authentizitätskult (Thomas E. Schmidt über den Hass auf den Bürger) und den lustfernen Terror scheinbar echter Lebenskunst (Roger Sandall über den einflussreichen Ethnologen Karl Polanyi, der im einfachen das beste Leben erkennen wollte).

Vor allem Richard Herzingers Studie über den „Kapitalismus als Ethos“ macht dabei plausibel, dass die Marktwirtschaft die einzige Form der gesellschaftlichen Kommunikation verkörpert, die Menschen tatsächlich versorgen kann; nur sie kann als ökonomisches Regelwerk verlässlich herausfinden, was der Kunde will und was nicht. Mehr noch: Herzinger fordert gar, die allzu stark behauptete (und stets nur unterstellte) Konsequenz („Kapitallogik“!) der marktwirtschaftlichen Subjekte (Konzerne, Mittelstand, Einzelhändler) als wirklichkeitsfremd zurückzuweisen: In Wirklichkeit sei der Kapitalismus niemals in sich konsequent, man wisse im Grunde nicht, wie er überhaupt funktioniert.

Dass er funktioniert, stellen alle Autoren nicht in Abrede. Weshalb auch? In ihm ist mühseliger zu leben (Harry Nutt über den Stress, dem der Konsument beim Shoppen unterworfen wird) als in anderen Wirtschaftssystemen, aber eben auch differenzierter, eigensinniger. Aber dass keine andere Ökonomie die Alltage von Menschen zu versorgen imstande ist, steht nicht in Frage. Selbst unter Globalisierungskritikern hat die nordkoreanische Ökonomie nicht viel moralischen Kredit.

Manches fehlt in diesem Heft, leider. Gewiss ein Beitrag zur Genderfrage. Davon abgesehen, dass Kapitalismuserörterungen in der Judith-Butler-Gemeinde zu den allzu der Realität verhafteten Dingen gehören, wäre ein Autor, eine Autorin passend gewesen, die die immens gewachsenen Freiheitschancen von Frauen unter kapitalistischen Verhältnissen beschrieben hätte.

Kein Periodikum hätte kompakter gegen das Unbehagen an der modernen, westlichen Gegenwart argumentieren können. Es sind Spots gegen die Bequemlichkeiten des Denkens. Ein gelungener Versuch, den Blick aus einer anderen Ecke zu werfen – und insofern so etwas wie intellektuelle Avantgarde. Wer das mit Schlagworten wie Neoliberalismus abtut, will es gemütlich haben. An solchen Empfindungen aber können gerade Länder der Dritten Welt kein Interesse haben.

„Merkur“, Doppelheft September/Oktober 2003, 243 Seiten, 18 €