: „Der Irakkrieg war revolutionär“
Interview DOROTHEA HAHN
taz: Herr Balibar, seit 1989 sind die internationalen Beziehungen brutaler geworden. Wie finden Sie unsere neue Welt?
Etienne Balibar: Der Kalte Krieg hat viele harte Konflikte maskiert und eingefroren. Seit einigen Jahren sind sie öffentlich sichtbar. Ich habe nicht erwartet, dass das Ende der Teilung der Welt einfach ein neuer Anfang für eine Ära des Friedens und des Wohlstands sein würde. Historisch war der Sturz der sowjetischen Regime in Osteuropa unvermeidlich. Er hätte auf viel gewalttätigere Form geschehen können.
Manche sprechen von samtenen und anderen „Revolutionen“…
Auf jeden Fall ist es eindeutig ein Bruch. Aber die Wahrnehmung dieser Ereignisse ist unterschiedlich, je nachdem, wo man sich befindet. Nehmen wir einen Palästinenser. Es ist gut möglich, dass ihm das Ende des Gleichgewichts der Kräfte mehr als Katastrophe denn als Chance erscheint.
Und was sagen Sie als Franzose?
Franzose bin ich auf dem Papier. Aber ich verstehe mich als Europäer. Für mich hat bei den Ereignissen von 1989 das Positive überwogen. Seit der Tschechoslowakei 1968 und seit der chinesischen Kulturrevolution habe ich nicht mehr geglaubt, dass die sozialistischen Regime von innen reformierbar wären. Seit jener Epoche habe ich die Teilung des kulturellen und historischen Raums in Europa auch als historische Katastrophe erlebt. Als ein Hindernis für das Denken und für die Aktion. So gesehen, begann mit dem Fall der Mauer eine neue Epoche mit Chancen für uns alle.
Jene chancenreiche Zeit am Ende des Kalten Krieges liegt 14 lange Jahre zurück. Seither haben allein im Irak zwei heiße Kriege stattgefunden. Gefolgt von einer komplizierten Nachkriegslage.
Selbst der Begriff „Krieg“ ist schwammig geworden. Es gibt nicht deklarierte Kriege, von denen man nicht weiß, in welchem Moment sie beginnen und enden. Aus der Sicht der USA hat der Krieg am 11. September 2001 begonnen. Die Iraker haben erst die Diktatur von Saddam Hussein erlitten. Dann den Golfkrieg. Dann Bombardements, die nie aufgehört haben, und ein UN-Embargo, das für dramatische Lebensbedingungen gesorgt hat. Dann den nächsten Golfkrieg. Und jetzt die wirklich dramatischen Dinge, von denen man nicht weiß, wie sie enden werden: die materielle Desorganisation. Und eine vielleicht größere Notlage als vorher.
Für Sie ist die jetzige Lage im Irak schlimmer als unter Hussein?
Je nachdem, für wen. Auf einer Seite ist die Freiheit der Bewegung und der Meinungsäußerung und die Abwesenheit von politischer Polizei und Repression. Auf der anderen Seite die furchtbare Desorganisation der öffentlichen Dienste. Und die Zerstörung eines Staates, den man als aufgezwungene Macht beschrieben hat. Natürlich war es ein diktatorisches und blutiges Regime. Aber zugleich gab es eine gewisse soziale Normalität. Die bricht jetzt zusammen. Und dann gibt es noch die Frage des Bürgerkriegs. Selbst die Kurden und vielleicht noch stärker die Schiiten fürchten heute die Folgen des von außen aufgezwungene Regimewechsels.
Im Irakkrieg haben die USA die Vereinten Nationen an die Seite gedrängt und durch bilaterale Beziehungen ersetzt. Wie war es möglich, die UNO so außer Kraft zu setzen?
Ich benutze dazu dieselbe Formel wie Präsident Bush: Die Krise der Vereinten Nationen ist so tiefgehend wie jene des Völkerbundes im Jahr 1938. Im Gegensatz zu Bush allerdings stelle ich fest, dass die UNO zu ohnmächtig war, um den Frieden zu schützen. Und dass die einzige Supermacht einen überheblichen Anspruch auf die universelle Souveränität erhebt.
Als es zum Irakkrieg kam, war das Korrektiv von zwei konkurrierenden Supermächten verschwunden. War die Schwächung der UNO unvermeidlich?
Nein. Aber sie war wahrscheinlich von langer Hand vorbereitet. Schon die beiden Supermächte hatten die Tendenz, sich oberhalb der internationalen Legalität zu installieren.
Brüche des internationalen Rechtes waren aber nie das alleinige Privileg der USA und der verflossenen UdSSR. Das hat auch Frankreich gemacht.
Das internationale Regime, das wir seit 50 Jahren kennen, ist eine Mischung aus Recht und Macht. Besonders bei kolonialen und postkolonialen Unternehmungen haben auch Frankreich und Großbritannien das Recht missachtet – solange sie nicht mit jenen in Konflikt gerieten, die noch mächtiger waren.
Was also tun mit der UNO?
Die US-Initiative im Irak hat den Anschein des Systems der internationalen Beziehungen zerbrechen lassen. Sie hat die Ohnmacht der UNO vorgeführt. Und hat versucht, sie zu verschärfen. Das ist, wie Habermas sagt, eine „revolutionäre Initiative“. Als Antwort reicht es nicht, den Status quo verteidigen. Oder das Prinzip des internationales Rechtes. Man muss ebenso kühne und verändernde politische Initiativen ergreifen wie die amerikanischen Konservativen.
Wie muss die UN-Reform aussehen?
Die UNO muss die Abrüstung von nuklearen und anderen Massenvernichtungswaffen betreiben. Doch das wollen weder Amerikaner noch Chinesen. Und es mag gegenwärtig utopisch erscheinen. Aber vielleicht ändert sich das in sechs Monaten. Je nach Entwicklung der Situation im Irak. Die Europäer müssen mit gutem Beispiel vorangehen. Sie sollen keine militärische Macht aufbauen. Sondern Initiativen in dem Bereich der Abrüstung ergreifen. Weitere Reformen der UN sind nötig, zum Beispiel im Weltsicherheitsrat. Der ist ein Überbleibsel des Endes des Zweiten Weltkrieges. Er repräsentiert die Welt nicht.
Wie sollen sich die einstigen Kriegsgegner gegenüber den Hilferufen aus Washington verhalten?
Sie sollten nicht akzeptieren, was sie vor sechs Monaten abgelehnt haben. Wenn Frankreich und Deutschland jetzt Truppen und Geld schicken, für das, was offiziell die „Rekonstruktion des Irak“ heißt, segnen sie damit die amerikanische Intervention ab.
Der Irakkrieg hat auch die EU an ihre Grenzen gebracht.
Die Krise hat gezeigt, dass der Fortschritt dieser Institution kein Automatismus ist. Jede Etappe ist ein gefährlicher Sprung, der alles in Frage stellt. Die Länder haben nicht dieselbe Konzeption von den internationalen Beziehungen und von der Politik. Die Brüche in der Geopolitik machen nicht an Europas Grenzen Halt. Europa ist kein homogener Raum. Sondern ein Feld der Begegnungen und zugleich ein Ort von Konflikten zwischen Traditionen, Zivilisationen und Allianzen mit Divergenzen.
Wie ist der gegenwärtige Zustand der EU?
Das ist ein Schwebezustand. Zwischen Konformismus und Innovation. Zwischen Bürokratismus und Demokratie. Entweder wird Europa demokratischer als Frankreich, Deutschland und Polen, oder es wird abgelehnt werden. Demokratischer bedeutet nicht nur nur Wahlen – es bedeutet auch mehr soziale Rechte. Bessere Justizstrukturen …
Der nationale Sozialstaat ist tot?
Er ist moribund.
Aber auf europäischer Ebene gibt es keine Sozialpolitik.
Auf jeden Fall nicht viel. Denn die sozialen Rechte sind nicht wirklich als Grundrechte in Europa anerkannt. Weniger zumindest als in einigen westeuropäischen Mitgliedsländern. Und die soziale Demokratie hat in den unterschiedlichen Ländern verschiedene Formen. Es ist dringend nötig, Entscheidungen zu treffen, die Auswirkungen auf die materielle Existenz der großen Masse der Bürger haben. Auf die soziale Sicherheit, auf die Arbeitsbedingungen und auf die unternehmerische Freiheit. Wenn die Gewerkschaften zunehmend aus der Beteiligung an der Sozialpolitik verdrängt werden, ist das nicht nur ein Rückschritt, sondern es sorgt auch für ein Ende der Politik. Die Armen und die Unglücklichen, für die der soziale Aufstieg unerreichbar ist, werden sich von der Politik abwenden. Die Geschichte zeigt, dass sie dann empfänglich für Manipulationen von nihilistischen und sehr gefährlichen Kräften werden.
Die künftigen neuen EU-Mitglieder sehen das ganz anders.
Ja.
Für sie ist die EU ein Wirtschaftsclub, ein großer Markt. Politisch verhalten sie sich wie Assoziierte der USA.
Die Dinge sind ein bisschen komplizierter. Ich kann verstehen, dass Begriffe wie sozialer Konflikt und Klassenkampf in Osteuropa unsympathisch klingen. Das waren Worte einer Diktatur. Offizielle Doktrin. Die Intellektuellen sind geneigter, die Sprache des Liberalismus zu sprechen. Wenngleich mit interessanten Varianten, die von einem individualistischen Liberalismus bis zu einem Liberalismus christlicher Tradition reichen.
Auch in Sachen Krieg stand Osteuropa gegen Deutschland und Frankreich.
Da war die Öffentlichkeit weniger enthusiastisch als die Regierungen über die amerikanischen Projekte. Möglicherweise wollen die Länder in Osteuropa auch zeigen, dass sie existieren. Dass sie dasselbe Recht auf Einflussnahme in Europa haben wie die Gründer der EU. Das hat viel damit zu tun, wie die Spaltung des Kalten Krieges überwunden wurde. Das Ende der europäischen Teilung war eben nicht Resultat einer symmetrischen Bewegung auf beiden Seiten, wie es sich zum Beispiel Willy Brandt vorgestellt hat. Es war der Zusammenbruch der Regime im Osten und der zumindest scheinbare Triumph des Projektes des Westens. Paradoxerweise haben übrigens die Amerikaner vor zehn Jahren für einen Expansionismus des Westens in den Osten gesorgt. Heute hingegen haben sie die umgekehrte Tendenz, Alliierte in Osteuropa zu suchen – gegen die Gründer der EU.