Sehnsucht nach Führung

Powerfrau zwischen Hoffnungslosen: Jan Bosse inszeniert Tschechows „Drei Schwestern“ am Schauspielhaus

Natascha zieht sich warm an. Ein Pullover über dem anderen, eine Hose nach der anderen, dann noch Westen, Jacken, Mäntel, Mützen, Kapuzen, Schals und Handschuhe. Immer noch eine Schicht passt drüber, bis sie sich kaum noch bewegen kann. Aber Befehle kann sie noch erteilen.

Zum Saisonstart bietet Jan Bosse am Schauspielhaus alles andere als eine Skandalinszenierung von Tschechows Drei Schwestern. Keine provokante Neuinterpretation, sondern psychologisch stimmiges Schauspielertheater mit frischen Bildern. Keine Nackten, nur Nachtwäsche, lange Unterhosen – und eine dick verpackte Natascha (Christiane von Poelnitz). Ihr Wandel von der verschüchterten Verlobten des Bruders bis zur vereinnahmenden Hausherrin bildet den Mittelpunkt der Inszenierung. Umso desolater die übrige Gesellschaft: Natascha ist die einzige Tatkräftige in diesem Haufen aus Unentschlossenen, Gescheiterten und zunehmend Hoffnungslosen.

Anfangs scheint noch Hoffnung zu bestehen. „Nach Moskau!“ lautet die Glücksformel der drei Schwestern, raus aus der engen Provinzstadt, weg vom verwaisten Elternhaus. In einer Art Container (Bühne: Stéphane Laimé) wohnen die Schwestern und ihr Bruder Andrej. Der unmöblierte Unterstand mit Schiebewänden erinnert an eine Bushaltestelle. Doch die Haltestelle scheint stillgelegt. Mit jedem Akt, bei dem ein weiterer, nur im Farbton verschiedener Container aus dem Boden hervorwächst und die anderen ein Stockwerk höher schiebt, sinkt die Hoffnung auf Veränderung. Olga (Wiebke Puls), die Lehrerin, wird immer gestresster, Mascha (Myriam Schröder) verliert ihren Geliebten, Irina (Maja Schöne) ihren ungeliebten Ehemann in spe. Ein alter Arzt verliert sein Gedächtnis, Bruder Andrej (Tilo Nest) seinen Stolz. Nur eine gewinnt: Andrejs Ehefrau Natascha. Im zweiten Akt spannt sie eine Wäscheleine mit Kinderkleidung quer über den Container. Kein Platz mehr für Irina, die Jüngste, die anfangs vor Lebenslust und Hoffnung nur so strotzte. Jetzt hängt sie schlaff über der Wäscheleine und versucht vergeblich, die Schiebewände des Containers zu schließen und ihre Privatsphäre zu verteidigen – ein Spalt bleibt immer offen.

Wie alles anders hätte verlaufen können, zeigt eine Szene im ersten Akt. Zum Namenstag von Irina dirigiert Olga enthusiastisch Freunde und Verwandte zum Jubelchor. Und (fast) alle singen begeistert mit, reagieren prompt auf jedes Zeichen der Dirigentin. Eine Ahnung, wie die brachliegenden Energien gemeinsam hätten genutzt werden können, befällt einen da – und gleichzeitig die Ahnung, wie gefährlich die Sehnsucht nach starker Führung ist. KARIN LIEBE

nächste Vorstellungen: 26., 30.9., 20 Uhr, Schauspielhaus