: 1:0 für Freud – Ballzauber und Jubelrunden in psychedelischen Stadien
Im bislang geheimen Traumtagebuch des Fußballfans wird zwar manches Spiel des Heimvereins verpasst, dafür darf der Fußballträumer aber mitunter ins Geschehen eingreifen
Wer ein Traumtagebuch führt, ist nicht cool und setzt sich möglicherweise sogar dem Verdacht aus, nicht mehr alle Freud-Schwarten im Schrank zu haben. Trotzdem habe ich – und einer muss ja mal anfangen mit dem Outen – kein Problem damit, zu gestehen, dass ich schon seit Jahren meine Fußballträume protokolliere. Zumal Fußball und Träumen insofern viel gemeinsam haben, als wir dabei jeweils „in eine andere Realität eintreten, aus der wir erfrischt zurückkehren“, um mal etwas beim Golffan John Updike aus dem Zusammenhang zu reißen.
Ein Großteil meiner Träume ist bestimmt von der Sorge, ich könnte ein Spiel meines Vereins versäumen. Solche spielen sich in der Regel 12 bis 48 Stunden vor einer wichtigen Partie ab. In der bisher spektakulärsten Version des Standarddrehbuchs war mir bereits während des Träumens bewusst, dass ich das Spiel verpassen werde: Es war nur noch eine Stunde Zeit bis zum Anpfiff, und das Spiel fand ungefähr 200 Kilometer entfernt statt. Dennoch erweckte ich den Eindruck, als habe ich keine Zeit zu verlieren, rutschte ich doch auf einem schlittenähnlichen Ding in hacklschorschiger Manier einige hügelige Straßen hinab.
In der zweiten Traumkategorie stehen Plots mit Spielausschnitten. Einmal sah ich unseren Torwart einen Abschlag direkt ins gegnerische Tor verwandeln, was ihn derart euphorisierte, dass er vom Feld rannte und ein paar Jubelrunden drehte. Spontan entschloss er sich, in die Kabine zu gehen und nie mehr zurückzukehren. Ausgerechnet ich war mit einer Art Schlaginstrument ausgerüstet und sollte ihn nun beruhigen und zum Weiterspielen motivieren.
Ohne mein Mitwirken lief dagegen ein geträumtes Spiel ab, in dem der Lieblingsstürmer meiner Mannschaft den Ball mit der Brust stoppte, woraufhin das Spielgerät sich in eine Bierdose verwandelte. Am Rand des Feldes wütete derweil ein Trainer, der in der Realität fünf Jahre vorher gefeuert worden war, nachdem er sich mit Arbeitsanweisungen wie „Lauf, du Schwuchtel“ profiliert hatte.
In der Unterrubrik „Spiele, psychedelisch“ ist ein Traum aufgeführt, bei dem sich in der Halbzeitpause eine nicht näher zu bestimmende moderne Fußballarena in die Sportanlage des Hamburger Oberligisten SC Vorwärts/Wacker Billstedt verwandelt – also ein Stadion, das zirka 35.000 Menschen fasst, in eines, in das rund 4.000 passen. Vor diesem Spiel hatte ich außerhalb des Stadions auf einem Sperrmüllsofa gesessen, und immer wieder kamen Menschen vorbei, die mir berichteten, dass andere mich suchten, weil sie mir Schokolade schenken wollten.
Ein anderes Mal wurde in meinem Heimstadion während des Spiels ein Findling aus dem Rasen gegraben, und als die Prozedur vorbei war, fielen Schachteln vom Himmel – es wirkte wie eine Werbeaktion, aber wer da für was warb, ließ sich bei der Niederschrift nicht mehr eruieren.
Am stärksten verstören mich Fußballträume, in denen ich etwas tue, was ich im richtigen Fußballleben nie tun würde. So sah ich mich einmal zu Hause sitzen, obwohl mein Verein bei einem großen Turnier mitspielte. Plötzlich rief jemand vom Stadion aus an, ich solle das Bahnhofsschließfach aufsuchen, an dem das alte, fast schon abgekratzte Wappen unseres Klubs klebt – was ich dann auch tat, aber danach passierte leider nichts mehr.
In einer anderen Nacht ging ich zur Halbzeit aus dem Stadion, um kurz etwas zu erledigen, wozu ich dann aber nicht kam. Denn über mich brach die Flut herein – das war lange vor den großen Hochwasserspektakeln, aber wie auch immer: Es sollte wohl ein Zeichen der Strafe sein. Der Naturgewalt knapp entkommen, geriet ich in eine Art Irrenhaus, und dabei wurde ich selbst ein bisschen irre, weil ich wusste, dass ich die zweite Halbzeit verpasse. Erst zehn Minuten vor Spielschluss fand ich heraus aus dem Gebäude und raste mit einem Taxi zurück.
Ich habe mich auch einmal bei aussichtslosem Spielstand das Stadion verlassen sehen. Irgendwie muss ich im Traum doch zur Vernunft gekommen sein, jedenfalls kehrte ich reumütig zurück, nur um dann auf den Rängen die Magazine Essen + Trinken und Amica zu lesen, die dort herumlagen, wo ich gewöhnlich stehe.
Am meisten Rätsel gibt mir jener Plot auf, der sich um eine Hochzeitsparty in einem Stadion dreht. Sie fand statt unter einer Tribüne, die seltsamerweise so konstruiert war, dass man von hier freie Sicht aufs Spielfeld hatte. Der Bräutigam war mir bis dahin nicht bekannt gewesen, und auf der Hochzeit schien er auch nicht anwesend zu sein. Aber viel mehr irritiert mich im Nachhinein, dass während der Feier zwei Mannschaften gegeneinander spielten, über die ich mir im wachen Zustand noch nie Gedanken gemacht hatte: Erzgebirge Aue und Jahn Regensburg.
RENÉ MARTENS