Wie Sonderschüler sich selber sehen

Nicht nur der Arbeitsmarkt benachteiligt Sonderschüler. Auch sie selbst stempeln sich als nicht normal ab

BERLIN taz ■ Jenny scheitert. Jetzt ist sie 21. Sie hat von der zweiten Klasse an eine Sonderschule besucht. Eigentlich hat sie unglaublich viel Glück gehabt. Jenny beendete die Sonderschule mit einem Hauptschulabschluss, sie ergatterte sogar eine Berufsausbildung. „Danach habe ich versucht, erst mal Bewerbungen zu schreiben“, erzählt die junge Frau. „Von der Stadt D. hab ich Absagen bekommen, weil mein Zeugnis einfach zu schlecht war. Ja, und das war dann erst mal eine Niederlage für mich.“

Mit dieser Niederlage erlebt Jenny aus Nordrhein-Westfalen nichts Besonderes für eine ehemalige Förderschülerin. 80 Prozent der Sonderschüler haben keine Chance auf den Hauptschulabschluss. Und sogar neun von zehn Sonderschülern finden keinen Ausbildungsplatz, sondern verbleiben in berufsbildenden Maßnahmen, die nicht qualifizieren. Der Grund für die schlechten Jobchancen liegt sehr oft im Besuch der Sonderschule selbst. Die Forscher nennen das „institutionelle Klassifikation“. Das heißt, AbsolventInnen der Schule für Lernbehinderte gelten noch weniger am Arbeitsmarkt als Hauptschüler – wegen ihres Etiketts.

„Die Betroffenen erfahren im weiteren Lebensverlauf und in anderen Lebensbereichen vermittelt durch ihren Schulbesuch bzw. ihre Schulabschlüsse Diskriminierung als ‚Lernbehinderte‘“, schreibt Lisa Pfahl. Die Soziologin am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) promoviert gerade zu dem Thema. Das Interessante an ihrer Arbeit ist, dass sie die Auswirkungen der Deklassierung auf dem Arbeitsmarkt untersucht – und gleichzeitig fragt, welche Folgen der Sonderschulbesuch in der Selbstwahrnehmung der Schüler hinterlässt.

Jenny zum Beispiel – eine der Nahbeobachtungen, die WZB-Forscherin Pfahl vorgenommen hat – ist einerseits fest entschlossen, „endlich in meinen Beruf reinzukommen, zu arbeiten und Geld zu verdienen“. Andererseits beginnt sie sich im Interview selbst klarzumachen, dass das für sie ja quasi unmöglich sei. „Als Erzieherin, da muss man auch ein sehr, sehr gutes Zeugnis haben. Und das werde ich niemals haben, und da wollt ich auch gar nicht darauf hoffen.“

Lisa Pfahls Analyse hat den Vorteil, dass sie quantitative Betrachtungen mit Fallstudien verbindet. Sie zeigen, welche Verwüstungen der Sonderschulbesuch bei den Menschen anrichtet. Sie sei von Anfang an auf einer Sonderschule gewesen, sagt Jenny. „Der IQ-Test war sehr schwach, glaub ich, bei mir.“ Und dann: „Es wurde festgestellt, dass ich einfach eine Lernschwäche hatte, dass ich nicht wie andere Kinder halt eben [bin].“

Was Lisa Pfahls herausgefunden hat, ist eine doppelte Stigmatisierung. Der Arbeitsmarkt will von den Sonderschülern nichts wissen. Und sie selbst setzen sich einem unaufhörlichen Selbstverhör aus – weil sie in dieser Schulform waren. „Sie fragen sich, warum es sie erwischt hat, zu den Unnormalen gestellt zu werden. Sie wollen wissen, ob und wann sie denn normal sind“, sagt Pfahl der taz. „Die jungen Erwachsenen bilden also Selbsttechniken aus, mit denen sie sich anzupassen versuchen. Sie kämpfen um einen Status der Normalität. Die Gruppe der Schulabgänger bleibt damit in den Folgen der schulischen Segregation berufsbiografisch ‚gefangen‘.“

Wie kann man von einem Einzelfall wie Jenny auf die ganze Gruppe der über 400.000 Sonderschüler schließen? Da hilft die Anlage der Untersuchung weiter. Denn die Soziologin Pfahl hat die besten Sonderschüler näher befragt, ausgewählt aus einer kleinen Gruppe. Und obendrein jene, die in einem Modellversuch zwei Jahre einen persönlichen Jobberater hatten. Ergebnis, so Pfahl: „Es gibt Erfolge, aber die bleiben individuell und bringen keine deutliche Verbesserung für die Gruppe der Schüler. Sonderschule funktioniert auch nicht mit ungeheuerem Aufwand.“ Aber mit einem eigenen, neuen Abschluss?

Der Präsident der Kultusminister, Henry Tesch, sagte der taz, wenn man Förderschülern künftig einen eigenen Abschluss gebe, dann werde sie das motivieren. Da kann Lisa Pfahl nur lächeln. Sonderschüler erklärten spätestens eine Zeit nach dem Besuch der früheren Hilfsschule, dass sie besser niemals dort gelandet wären. „Ich hoffe für meine Kinder“, sagt Jenny, „dass sie nicht auf ’ne Sonderschule kommen. Um Gottes willen, das wünsch ich.“ CHRISTIAN FÜLLER