: Die Nacht kurz vor den Türen
Krach nach Mitternacht: „Geben Sie mir Werkzeug“, sagt einer der kleinen Gangster, „Schraubenzieher und so.“Die Tür ist zu, der Schlüssel steckt auf der falschen Seite des Schlosses, und fünf Nachbarn wissen nicht, was tun
Die Hitze verzieht sich auch nachts nicht mehr aus der Wohnung. Statt der erhofften Kühle weht bloß Krach ins Zimmer. Seit nebenan dieser kleine Gangster eingezogen ist, sitzt, nur durch anderthalb Türen von mir getrennt, eine Bande junger Halunken in der Bude, raucht Gras und fährt am Computer Autorennen. Tag und Nacht hallt Geschrei durch den Hof und die weit offenen Fenster in jede Wohnung hinein. Wenn sie mal nicht Auto fahren, ballern sie wild durch die Gegend, bis jetzt zwar ebenfalls nur am PC, doch bin ich gespannt, wie lange noch.
Neulich klingelte es mitten in der Nacht an meiner Tür. Durch den Briefschlitz erkannte ich fünf kleine Gangster, also genau die Klientel, derentwegen ich immer extra durch den Briefschlitz spähe. So habe ich die Option, ungebetenen Gästen erst gar nicht die Tür zu öffnen – es könnten ja zum Beispiel fünf kleine Gangster sein.
Ich öffnete sofort. Wie immer – ein Phänomen, dessen psychologischer Hintergrund mir nach wie vor absolut unklar ist: sexuell motiviertes Verlangen nach Erniedrigung, Schmerz und Verlust des Eigentums? Unterschwellige Todessehnsucht? Oder schlicht Neugier? Beziehungsweise: Setzt sich die Neugier nicht ohnehin stets aus den erwähnten Trieben plus der Hoffnung, im Lotto gewonnen zu haben, zusammen? Logisch, dass ich so auch längst in die vergifteten Tentakel der GEZ geraten war.
Den Jungs war selber zu heiß: Ohne „guten Morgen“ kam mein neuer Nachbar zur Sache: „Meine Tür geht nicht auf. Können Sie meine Tür aufmachen? Machen Sie meine Tür auf.“ Er hatte den Schlüssel innen stecken lassen. Die anderen vier Gangster standen feixend um uns herum, während zwei minderjährige Mädchen auf den Treppenstufen hockten und dekorativ die Schnauze hielten. Gerne hätte ich mal ihre Erziehungsberechtigten gesprochen, aber wenn sie welche gehabt hätten, wären sie ja wohl kaum hier gewesen.
„Geben Sie mir Werkzeug“, sagte der kleine Gangster, „Schraubenzieher und so.“ Ich holte einen aus der Küche, gab ihn dem kleinen Gangster, und der reichte ihn an den nächstgrößeren Gangster weiter, der damit planlos die Tür zu bearbeiten begann. Drei Sekunden später wollten sie mein eigenes Schloss untersuchen: „Wir schrauben das Schloss raus. Zeigen Sie: Wo kann man das Schloss rausschrauben?“ Ich gab zu bedenken, dass sie dazu zunächst ihre Tür öffnen müssten, zeigte ihnen aber trotzdem das Schloss, damit sie mich in Zukunft leichter würden überfallen können. Einer, der so eine idiotische Clownsfrisur auf der Kopfmitte trug, versuchte es jetzt mit einer Bankkarte. „Das ist ein schwere Altbautür mit Sicherheitsschloss“, informierte ich selbstlos die Verbrecher. „Haben Sie eine andere Karte? Geben Sie mir Ihre Karte“, forderte der kleine Gangster. Ich hätte keine, behauptete ich – sollte er sie sich doch holen, wenn er bei mir einbrach.
Ich erwähnte nunmehr den Schlüsseldienst und nutzte die allgemeine Konfusion, die das unbekannte Wort hervorrief, um mein Werkzeug zurückzuerobern und außer Reichweite der Gangster zu bringen.
„Was ist Schlüsseldienst?“ Ich erklärte es ihnen und auch, dass das sicher teuer würde. „Wie ist die Nummer? Rufen Sie da an. Muss man das gleich bezahlen?“
Ich holte die Gelben Seiten aus der Wohnung und ließ sie darin blättern. „Gibt kein Schlüsseldienst“, zuckte der am wenigsten kleine Gangster mit den Schultern. Ich suchte einen Schlüsseldienst heraus und diktierte ihm die Nummer ins Handy. „Muss man das gleich bezahlen?“, hörte ich ihn sagen, dann war das Gespräch beendet. Ich schloss die Tür und ging wieder zu Bett. Lautes Lachen und das Geräusch unablässig splitternden Holzes wiegten mich endlich in einen unruhigen Schlaf.
Die Trümmer hat der kleine Gangster bis heute nicht entfernt. „Wer macht das weg?“, wundert er sich bestimmt die ganze Zeit. „Machen Sie das weg. Warum ist meine Tür kaputt? Reparieren Sie das.“ Aber nichts passiert. Nur irgendjemand hat ins Treppenhaus gekotzt. Das stinkt in der Hitze, und keiner macht es weg. ULI HANNEMANN