Thüringen im Teilungswahn

In Sondershausen, der früheren Hauptstadt des deutschen Bundesstaates Schwarzburg-Sondershausen zeigt eine Ausstellung Glanz und Elend der Kleinstaaterei

VON RALPH BOLLMANN

Die Landesfürsten konnten sich mit dem Kandidaten nicht recht anfreunden. Er war den Provinzpotentaten zu forsch, zu fremdländisch, zu mächtig. Eine Alternative hatten sie nicht zu bieten, aber das störte sie nicht im Geringsten. Bevor sie sich ins Unvermeidliche fügten, verlangten sie vom künftigen Herrscher nicht nur gewaltige Geldbeträge, der neue Spitzenmann musste vor seiner Wahl auch „kapitulieren“ – also in Form von schriftlichen Kapiteln niederlegen, dass er die „deutsche Libertät“ der Landesherren respektieren werde.

Kurzum: Es ging zu wie heute im Berliner Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat, wenn der Kanzler mal wieder um die Gnade der Ministerpräsidenten fleht. Man schrieb aber das Jahr 1519, und der hilflose Regent war nicht der Niedersachse Gerhard Schröder, sondern der Habsburger Karl V. – jener Monarch also, in dessen Reich die Sonne nie unterging, spanischer König und in Deutschland „von Gottes Gnaden Erwählter Römischer Kaiser, zu allen Zeiten Mehrer des Reiches“.

Sorgsam verwahrte der sächsische Kurfürst Friedrich der Weise das Dokument, das ihn wie die übrigen Reichsfürsten vor Eingriffen des Kaisers schützte, in seinem Staatsarchiv. Derzeit ist es im Torgauer Schloss zu sehen, wo die sächsische Landesausstellung „Glaube und Macht“ die Reformationszeit beleuchtet. Zusammen mit einer Schau über die deutsche Kleinstaaterei, die das Nachbarland Thüringen in der einstigen Residenzstadt Sondershausen zeigt, ergibt sich ein faszinierendes Panorama jener Region, in der sich die Besonderheiten der politischen Kultur in Deutschland seit dem 16. Jahrhundert herausbildeten. Wer das Land verstehen will, muss diesen Sommer nach Torgau und Sondershausen fahren.

Keines der heutigen Bundesländer repräsentiert Glanz und Elend der deutschen Kleinstaaterei so sehr wie Thüringen. Neben den sächsischen Ernestinern (siehe Randspalte) trugen noch zwei weitere Familien dazu bei, die Region in immer kleinere Sprengel aufzuteilen: Im Osten des Landes residierten die Reußen, im äußersten Norden und Süden die Schwarzburger.

Hatten im übrigen Deutschland schon Napoleon und Bismarck die Landkarte bereinigt, so bestanden in Thüringen noch bis zum Ersten Weltkrieg acht selbstständige Staaten. In Weimar, Meiningen, Altenburg und dem damals thüringischen Coburg hielten die Ernestiner Hof. Sondershausen und Rudolstadt verdankten den Schwarzburgern ihren hauptstädtischen Rang. In Gera und Greiz spielten die Reußen die Karte der Eigenstaatlichkeit aus. Mit seinen rund 80.000 Einwohnern war das Fürstentum Reuß ältere Linie, dessen Regierung in Greiz residierte, zuletzt der kleinste Bundesstaat des Deutschen Reichs – und der einzige, dessen Gesandter im Berliner Bundesrat des Öfteren gegen die Vorlagen der Reichsregierung stimmte.

In Thüringen ging es bis ins 20. Jahrhundert zu wie im Königreich Popo, das Georg Büchner in seiner Kleinstaatsatire „Leonce und Lena“ beschrieben hat. So winzig ist dort das Territorium, dass sich die Staatsgrenzen vom Residenzschloss bequem überschauen lassen. Erwartet der König Besuch, braucht sein Personal nur aus dem Fenster zu schauen. „Ich sehe was“, sagt dann der Bediente, „es ist etwas wie eine Nase, das Übrige ist noch nicht über der Grenze.“

Den Höhepunkt erreichte der Thüringer Teilungswahn zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Zu jener Zeit regierten auf dem Gebiet des heutigen Freistaats nicht weniger als 22 Fürsten. Allesamt beanspruchten sie weitgehende Souveränität, nur den fernen Kaiser in Wien akzeptierten sie als symbolische Autorität.

Noch größer wird die Verwirrung durch den Umstand, dass die Thronfolger des Hauses Schwarzburg fast ausnahmslos auf den Namen Günther und die Reußen auf den Namen Heinrich getauft wurden. Um Verwechslungen zu vermeiden, wurden die Ordnungszahlen ungeachtet der verschiedenen Linien jeweils nur einmal vergeben. So kam es, dass der letzte Fürst Reuß jüngere Linie seine Abdankungsurkunde 1918 als „Heinrich XXVII.“ unterschrieb. Immerhin hatte die Erhebung in den Reichsfürstenstand an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert eine Art Währungsreform ermöglicht, so dass sich Graf Günther der Dreiundvierzigste von Schwarzburg-Rudolstadt von einem Tag auf den anderen in Fürst Günther den Ersten verwandelte.

Derlei Kuriosa konnten die regierenden Familien nicht davon abhalten, ihre Territorien immer weiter zu teilen. Es galt, alle männlichen Nachkommen standesgemäß zu versorgen und Erbstreitigkeiten zu vermeiden. Der Kaiser und das benachbarte Kursachsen halfen nach Kräften, konnten sie doch von einer weiteren Schwächung der möglichen Konkurrenten nur profitieren.

So kam es, dass sich das Fürstentum Reuß ältere Linie zeitweise in „Obergreiz“ und „Untergreiz“ aufspaltete. Der eine Zweig wohnte im bequemen Residenzschloss inmitten der Stadt, der andere hauste hoch droben auf der mittelalterlichen Burg. Kein Wunder also, dass die Schar der Nachkommen in Untergreiz größer war. Alsbald spalteten sich die Grafschaften Untergreiz-Burgk und Untergreiz-Rothenthal ab, während in Obergreiz nur die Linie Obergreiz-Dölau hinzukam.

Im Jahr 1712 dämmerte es dem Fürsten Heinrich XIII. Reuß ältere Linie zu Untergreiz schließlich selbst, dass seine Familie den Teilungswahn zu weit getrieben hatte. „Bei den meisten alten Häusern“, schrieb er, „haben die vielen Teilungen ein Großes von dem ihnen sonst gehörigen Respekt und Splendeur entzogen.“

Damit war auch in den Augen der Dynastien eine Grenze überschritten. In den meisten Thüringer Fürstentümern wurde von nun an die ungeteilte Übergabe des jeweiligen Territoriums an den erstgeborenen Sohn des Souveräns vorgeschrieben. Von Wiedervereinigung war indes nicht die Rede. Sie kam nur in Betracht, wenn ein Fürst ohne männliche Nachkommen verstarb.

Wirkliche Macht gewannen die Thüringer Potentaten allenfalls als Ratgeber an fremden Höfen. So wirkte Günther XLI. von Schwarzburg als enger Vertrauter Wilhelms von Oranien an der Gründung der Vereinigten Niederlande mit. Und Heinrich Posthumus Reuß jüngere Linie, der vor allem durch die akribische Planung seines eigenen Begräbnisses bekannt geworden ist, amtierte als kaiserlicher Rat in Wien.

Ihre größten Fähigkeiten bewiesen die Provinzfürsten jedoch in der Heiratspolitik. Als souveräne Herrscher konnten sie standesgemäße Ehen mit Königen und Kaisern schließen, und niemand machte sich diesen Vorteil so sehr zunutze wie die Herzöge von Sachsen-Coburg-Gotha. Am spektakulärsten war die Hochzeit des Coburger Prinzen Albert mit der britischen Queen Victoria im Jahr 1840. Erst 1917 benannten sich die Royals in „Haus Windsor“ um, weil die Bezeichnung „Sachsen-Coburg-Gotha“ im Krieg mit Deutschland nicht mehr opportun erschien.

Arrangiert wurde die deutsch-britische Ehe 1840 von einem Monarchen, der gleichfalls aus der thüringischen Kleinstadt stammte: Leopold I. von Sachsen-Coburg-Saalfeld amtierte bereits seit 1831 als König der Belgier. Sein Sohn Leopold II. gelangte mit seiner Kolonialpolitik zu zweifelhaftem Ruhm. Sie forderte im Kongo weit mehr Opfer, als Sachsen-Coburg überhaupt Einwohner hatte. Gleichwohl residieren die Nachkommen der Coburger noch heute im Brüsseler Königsschloss, während sie als Könige von Portugal und Bulgarien längst abdanken mussten. Immerhin amtiert heute in Sofia ein später Abkömmling unter dem bürgerlichen Namen „Sakskoburggotski“ als Ministerpräsident.

Mehr noch als die Heiratspolitik war es allerdings der kulturelle Glanz, der die Existenz der Zwergstaaten bis 1918 sicherte. So verdankte der Herzog von Sachsen-Weimar-Eisenach seine Erhebung zum Großherzog 1815 nicht nur den engen Beziehungen zum russischen Zarenhaus, sondern auch dem Ruf der Kleinstädte als Zentrum der deutschen Kultur. Kaum ein deutsches Land hatte einen derart prominenten Minister aufzuweisen wie den Geheimrat Goethe, und selbst der Machtpolitiker Napoleon begrüßte den Dichterfürsten bei einer kurzen Begegnung in Erfurt mit den Worten: „Voilà un homme!“

Mit Theatern und Orchestern, Museen und Akademien suchten die übrigen Fürsten den Weimarer Glanz nachzuahmen. Noch heute findet sich in Altenburg eine spektakuläre Sammlung früher italienischer Malerei, Meiningen hat ein Theater mit bundesweiter Ausstrahlung, in Sondershausen spielt das renommierte Loh-Orchester. Gotha war ein Zentrum für Kartografie und Versicherungswesen, das sachsen-weimarische Jena entwickelte sich zu einem Zentrum der Naturwissenschaften.

Heute ist Thüringen mehr noch als das benachbarte Sachsen mit der Fülle des kulturellen Erbes überfordert. Nicht nur die Thüringer Landesausstellung verliert sich im Gestrüpp der Kleinstaaterei mit einer wahllosen Fülle von 1.500 Exponaten, während die sächsischen Ausstellungsmacher in Torgau lediglich 600 umso hochkarätigere Stücke präsentieren. Das erscheint symptomatisch für die heutige Kulturpolitik: Thüringen verzettelt sich in der Fülle von rund einem Dutzend Theatern und Orchestern, der Zentralstaat Sachsen setzt in Dresden klare Prioritäten.

Noch bei der Abdankung der Fürsten 1918 ging jeder der acht Thüringer Staaten ganz eigene Wege. Der Altenburger Herzog sprach seinen Untertanen einen „wärmsten Dank für ihre Anhänglichkeit“ aus, dagegen zeigte sich der Kollege in Meiningen ganz geschäftsmäßig „mit der Überweisung des Zinsabwurfes der obenerwähnten Abfindungssumme einverstanden“.

Als kurioser Nachzügler erwies sich der Fürst von Schwarzburg-Rudolstadt, der sich erst mit zwei Wochen Verspätung zum Thronverzicht bereit fand. Ohne Verfassungsänderung, so glaubte er, lasse sich die Monarchie nicht abschaffen – ein Argument, dem sich auch die SPD-Mehrheit im Landtag nicht verschließen mochte.

RALPH BOLLMANN, 34, ist taz-Inlandschef und teilt sich die Macht mit einem Mitregenten