„Mein deutscher Vater, ein Held“

Viola Roggenkamp birgt in ihrem Roman „Familienleben“ die Innenansichten einer deutsch-jüdischen Familie der Sechzigerjahre in Hamburg. Im taz-Gespräch erläutert sie Empfindsamkeiten aus einer Zeit, als Jüdisches besser beschwiegen wurde. Und die Autorin selbst als Spionin tätig war: Alles schien naziverdächtig

INTERVIEW CHRISTIAN SCHNEIDER

taz.mag: Frau Roggenkamp, in Ihrem Roman „Familienleben“ wird das Portrait einer deutsch-jüdischen Familie in den Sechzigerjahren gezeichnet. Aus der Sicht der jüngeren Tochter, also der „zweiten Generation“ nach dem Holocaust. Ich glaube, es gibt zwischen den so genannten Täter- und Opferkindern nach wie vor mehr Irritationen und Missverständnisse als geglückte Verständigung.

Viola Roggenkamp: Die Empfindlichkeiten in der Generation der Nachgeborenen sind erheblich. In Deutschland auf beiden Seiten.

Auf welcher Seite sehen Sie sich?

Ich bin jüdisch. In mir gibt es aber auch das Deutsche. Ich komme aus einer Mischmaschfamilie, mütterlicherseits jüdisch, väterlicherseits gojisch. Die Bezeichnung „nichtjüdisch“ finde ich problematisch. Ich weiß kein zweites Beispiel, dass eine Mehrheit sich über eine Minderheit definiert. Wenn ich von Ihnen als Christ sprechen würde …

ich kenne einige jüdische Deutsche meiner Generation, die den Ausdruck „Arier“ verwenden.

Das würde ich nicht machen. Ich sage „gojisch“. Ich bin nicht religiös. Ich weiß mich in der jüdischen Tradition. Dazu gehört für mich mehr als Religion. Dazu gehören für mich die Geschichte der Judenheit und eben auch die deutschsprachige Literatur.

Sie haben erst als Zweites vom „Mischmasch“ gesprochen. Nun haben Sie ein Buch darüber geschrieben. Würden Sie sich denn als eine jüdische Autorin bezeichnen?

Ich weiß von mir zweierlei: Dass ich jüdisch bin und dass ich schreibe. Ist doch nicht unwichtig. Ich empfinde das Jüdischsein nicht als Stigma. Es gab eine Zeit, in der ich nicht gesagt habe, dass ich jüdisch bin. In mir war das Gefühl, ich liefere damit meine Mutter aus. Das war mir mitgegeben worden von Anfang an. Sag das niemandem, sprich nicht draußen darüber mit deinen Freundinnen. Oder das eine oder andere jiddische Wort, das in der Familie benutzt wurde, das sollte ich draußen nicht sagen. Nicht in der Schule. Ich wusste ja gar nicht, dass es ein jiddisches Wort war. Für mich war es ein Wort wie ein anderes. Und prompt passierte es: Ich war in der ersten, zweiten Klasse, und der Lehrer, ein älterer Mann, verstand mich nicht. Dadurch gab es ein Missverständnis zwischen ihm und mir. Er fragte mehrfach nach, und ich war empört. Ich sagte es noch mal und noch mal, laut und deutlich. Ich erzählte davon mittags beim Essen. Zu Hause lachten sie darüber, sagten dann aber, das musst du nicht draußen sagen, das verstehen die nicht.

 Die?

Ja. Die. Das war nicht unbedingt abwertend gemeint. Darin war auch eine Vorsicht verborgen. Dennoch lachten sie darüber, dass ich draußen etwas von dem gezeigt hatte, was sie eigentlich verborgen halten wollten. Und mir war es plötzlich herausgerutscht. Das Jüdische. Sie redet „mit die Händ“, die Kleine. Das war auch etwas Jüdisches, das verborgen bleiben sollte. Und dennoch machte es ihnen Freude, mich so zu sehen. Hauptsache, ich würde keinen Schaden davon haben. Doppelte Botschaften: Dadurch blieben in mir Schamgefühle zurück.

Wann ist Ihnen das bewusst geworden, dass es die anderen gibt?

Ich kann nicht sagen, wann es mir bewusst war. Ich könnte nicht einmal sagen, ob dieses Gefühl mit der Sprache einherging. Meinen Eltern war jedenfalls wichtig, dass ihre Tochter weiß, dass sie durch ihre Mutter auch jüdisch ist. Welchen Schwiegersohn wird die Tochter nach Hause bringen? Was hat der im Schlepptau? Was für Eltern? Nazis? Das war doch nahe liegend. Wir sind in Deutschland. Ich habe als Kind wie eine kleine Agentin oder Spionin herauszufinden versucht, ob die Eltern einer Mitschülerin, die ich vielleicht mochte, womöglich Nazis waren. Wenn das Mädchen bei den Pfadfindern war und also manchmal eine Art Uniform trug, Blockflöte spielte oder Zöpfe hatte, war das für mich verdächtig.

Für wen haben Sie denn spioniert?

Ich glaube, auch für mich. Für mich ging es darum, zwischen diesen beiden Welten klarzukommen.

Die Schulsituation, die Sie beschreiben, zeigt ja, dass Sie da schon um diese Differenz wussten.

Ich glaube, auch vor der Schulzeit. In meinem Roman kommt ein „Theresienstädter Kränzchen“ vor. Diese Runde von alten Jüdinnen, die das Lager überlebt hatten, gab es wirklich in meiner Familie. Diesen vergnügten, laut durcheinander redenden Frauen war anzusehen, dass sie Furchtbares erlebt hatten. Das weiß ich heute, aus der Erinnerung. Als Kind war das anders. Ich mochte sie, und fast immer passierte etwas mit der einen oder anderen. Irgendetwas Beunruhigendes. Auf einmal! An der Kaffeetafel. Weinen. Die Hände vors Gesicht schlagen. Aus dem Zimmer laufen. Und die beschwichtigenden Worte der Erwachsenen zu uns Kindern mit dem Ausdruck höchster Beunruhigung, mit Tränen in den Augen. Ich habe meine Eltern oft weinen sehen. Das sind frühe Erinnerungen. Sie waren stets besorgt umeinander. Mein Vater war ein Mann, der in großer Liebe und Fürsorge für seine Frau war. Bis zu seinem Tod. Für seine Beerdigung trug er mir auf, wer nicht eingeladen werden durfte aus seiner gojischen Verwandtschaft, damit sich seine Frau nicht aufregte.

Traut man den Rezensionen, dreht sich in Ihrem Buch alles um die Mutter. Ihre Dominanz – das entspricht einem Klischee, zumal Sie vorher über die angeblich unglaublich starke „jüdische Mamme“ ein Buch geschrieben haben. Für mich spielt in Ihrem Roman der Vater eine viel größere Rolle.

Ich habe einen Roman geschrieben und keine Autobiografie. Sie sagen, „Ihr Vater“ und meinen Paul Schiefer, den Vater der Protagonistin Fania Schiefer. Der Roman hat allerdings sehr viel mit dem zu tun, wovon ich selbst weiß. Ich habe „Familienleben“ geschrieben zum einen, um meiner Mischpoche in Israel und Amerika etwas an die Seite zu stellen. Von dort kommen viele Romane über jüdisches Leben heute nach der Schoah. Dem wollte ich etwas aus jüdisch-deutscher Sicht hinzufügen. Zum anderen war es mir wichtig, keinen Roman über die Geschichte von Überlebenden zu schreiben. Sondern den jüdischen Nachgeborenen in Deutschland eine Stimme zu geben. Und zwar in der Bundesrepublik 1967. In meinem Roman ist es die Stimme der Ich-Erzählerin, der dreizehnjährigen Fania Schiefer. 1967 war ein wichtiges Jahr. In Israel war der Sechstagekrieg ausgebrochen, in Berlin demonstrierten die Studenten gegen den Schah von Persien. Das ist die Außenwelt, die auf einmal eindringt in diese Familie Schiefer. Von der Überlebensgeschichte der Eltern erfahren die Leser das, was Fania darüber weiß. Und immer wieder erzählt bekommt. In ihren Worten und verbunden mit ihren Gefühlen. Assoziativ aufsteigende Gefühle, die lesbar zu machen die innere Romanstimme vermag. Das ist ja eben die große Möglichkeit von Literatur. Sie sagen nun, der Vater Paul Schiefer, dem die Jüdin Alma Schiefer, Fanias Mutter, und auch deren Mutter, Hedwig Glitzer, ihr Überleben zu verdanken haben, ist in vielen Rezensionen verloren gegangen. Dieser Vater ist ein Held, einer von ganz wenigen deutschen Helden. Ob es damit zusammenhängt? Die Nachgeborenen der Täter und Mitläufer haben sich mit den toten Juden beschäftigt. Ich will diese historische Arbeit und Anstrengung nicht gering schätzen, überhaupt nicht. Aber darüber sind die eigenen Nazieltern, die eigenen Naziväter in den Hintergrund gerückt. Vergessen, abgetrennt. Ich empfinde es so, bis heute hin, wenn ich mit gojischen Deutschen meiner Generation spreche. Die Enkelgeneration weiß etwas mehr, die Generation der Achtundsechziger hat sich jüdische Ersatzväter gesucht, ohne dass es benannt wurde. Dass Bloch Jude war, dass Marx Jude war, Horkheimer, Adorno, das war doch nie wirklich Thema. Ob der Romanvater in den Rezensionen verloren gegangen sein könnte, weil er ein deutscher Vater ist, den man selbst gern gehabt hätte?

Tatsächlich wird er im Roman sehr liebevoll dargestellt und nimmt großen Raum ein.

Er hat in der Nazizeit zu seiner jüdischen Geliebten gehalten und sich dadurch selbst in Lebensgefahr gebracht. Im Wirtschaftswunderland Bundesrepublik ist er erschöpft. Ein schwacher Mann. Dadurch auch enttäuschend für Fania, seine Tochter. Aber er ist der Held.

Die Identifizierung mit Jüdischem in unserer Generation auf meiner, der gojischen Seite, ist ja ausgesprochen stark. So macht diese Sicht der Rezensenten Sinn: Man nimmt sich diese jüdische Mutter als eine Wunschgestalt, eine Figur, die man selber haben will, und den gojischen Vater kann man vergessen.

Die jüdische Mutter ist womöglich deshalb keine Bedrohung, weil sie völlig anders ist. Sie ist ja die Jüdin, der Vater hingegen ist dem eigenen Vater nahe. Er ist kein Jude, er ist der Deutsche, aber eben ein völlig anderer. Vielleicht gehören in diesen Kontext die Fehlleistungen, die sich in Rezensionen eingeschlichen haben. So hieß es in einer Besprechung, die Großmutter Hedwig Glitzer ließe sich zum Entsetzen ihrer Tochter Alma jede Woche aus Israel ein Matzepaket schicken. Ich würde meinen, nach so viel Arbeit über die toten Juden müsste eigentlich bekannt sein, dass es Matze nur einmal im Jahr zu Pessach gibt und nicht jede Woche. Außerdem heißt es im Roman, dass der Familie Schiefer die Matzen von der Jüdischen Gemeinde in Hamburg gebracht werden.

An Fehlleistungen kann man geradezu verschiedene Stationen des deutsch-jüdischen Verhältnisses ablesen. Zum Beispiel die berühmte Jenninger-Rede – eine einzige Fehlleistung, sowohl in der Art des Vortrags als auch in der Art, wie sie in Deutschland rezipiert wurde.

Damals im Bundestag hat Ida Ehre, glaube ich, den Saal verlassen …

nicht verlassen! Sie schloss die Augen. Alle haben das als Erschütterung gedeutet. In Wirklichkeit schlief sie ein.

Ach, sie ist eingeschlafen? Na herrlich!

Wie hat Ihre Mutter das Buch gelesen?

Sie hat meinen Roman dreimal gelesen. Beim ersten Mal war jeder Satz ein Überfall für sie. Das kann ich verstehen. Wir haben viel telefoniert in dieser Zeit. Beim Telefonieren konnte ich sie ja nicht sehen, und so habe ich sie nicht unterbrochen. Wenn man einander sieht beim Sprechen, glaubt man, dem Gesicht etwas abzulesen, und unterbricht, um zu helfen, wie man meint, und verhindert dadurch etwas, was vielleicht ausgesprochen worden wäre. Ich habe ihr also am Telefon zugehört, und sie hat wunderbare Sachen gesagt. Ich habe es vermieden, zu fragen: Wo bist du gerade im Buch? An dem, was sie sagte, konnte ich es erkennen. Wir haben es beide ausgehalten. Dann war sie durch. Sie ist auch stolz auf mich, ihre Tochter hat einen Roman geschrieben, zudem einen so dicken. Es war viel seelische Arbeit für sie, dieses Buch ihrer Tochter zu lesen, und sie respektiert meine schriftstellerische Arbeit, die Form und Sprache, die ich für diese Geschichte gefunden habe. Beim zweiten Mal hat sie einzelne Abschnitte wieder gelesen. Und dann ein drittes Mal von Anfang bis Ende. Natürlich hat mein Buch Erinnerungen in ihr wachgerufen, manches, wovon ich jetzt zum ersten Mal gehört habe. Sie weinte. Ich hörte es am Telefon. „Mein Gott, du weinst …“ Und sie sagte: „Was hast du als Kind innerlich ausgehalten.“ Sie habe immer geglaubt, was in ihr emotional verkapselt weiterlebt, was sie überhaupt nicht in Worte bringen kann, Traumatisches aus ihrer Geschichte, das habe sie von ihrer Tochter fern gehalten, um ihr Kind davor zu schützen. Sie sagte zu mir: „Und jetzt lese ich es in deinem Roman, und ich lese, dass du es in Worte gebracht hast.“ Ich habe versucht, dieses Ineinanderfließen der Generationen …

Telescoping?

Ja, richtig. Wie kann man Traumatisches in Worte bringen? Das geht eigentlich gar nicht. Trauma hat keine Worte, keine Sprache. Sonst wäre es kein Trauma. Dieses Ineinanderfließen der Generationen und ihre inneren Erlebniswelten habe ich im Roman in Sprache gebracht.

Was war ihre Reaktion?

Es hat mich beeindruckt, was meine Mutter sagte. Sie kann respektieren, dass es jetzt an mir ist, davon zu erzählen, und dass, was ich davon und wie ich darüber erzähle, mein ist. Das finde ich beachtlich. Und durch mich und meinen Roman ist sie nun doch als Jüdin wieder draußen zu sehen. Auch das wirft sie mir nicht vor. Im Gegenteil. Ich habe den Eindruck, es tut ihr gut. Ich bin stolz auf sie.

Es dürfte allerdings auch umgekehrt gelten. Dass sie stolz auf Sie ist.

Ja, das stimmt. Es hat auch mit dem Schreiben zu tun. Bücher sind etwas Besonderes. Und ein guter Roman ist etwas Wertvolles. Ich habe fünf Jahre daran gearbeitet.

Bücher sind auch eine Art Kinder.

Finden Sie auch? Mir wird das öfter gesagt. Ich habe keine Kinder. Sie?

Auch nicht. Bei mir hat es sicher ganz stark auch mit Fantasien zu tun, die in unserer Generation sehr ausgeprägt sind. Solche, dass man kein Recht darauf hat, Kinder zu haben.

Kein Recht auf eigene Kinder?

Wegen der Vergangenheit!

Das habe ich so deutlich noch von niemandem auf Ihrer Seite gehört.

Das gelangt meist auch nicht zur Bewusstseinsebene. Und es gibt eine zweite Fantasie, die diese Generation bewegt. Die Fantasie, dass da ein Gift in einem wirkt, das man besser nicht weitergibt.

So ein Tätergift?

Ja. Deswegen auch diese Identifizierung mit Jüdischem – die Suche nach Ersatzvätern. Diese Opferidentifizierung war nach allem, was geschehen war, für die Nachgeborenen psychologisch wahrscheinlich unumgänglich – und treibt manchmal seltsame Blüten. Wie im Fall Binjamin Wilkomirski.

Der hatte ein Buch geschrieben.Was war es eigentlich? Ein Roman?

Ich glaube, es ist nicht gattungsmäßig zugeordnet. Jedenfalls hat er nirgends Zweifel daran gelassen, dass es sich um eine wahre Geschichte, seine Geschichte handelt.

Und es war nicht seine Geschichte.

Ja, er hat sich eine richtige Holocaust-Biografie zusammenfantasiert. Später hat er dann gemeint – im Übrigen mit Hilfe einer problematischen therapeutischen Intervention –, sich an Bruchstücke eines Lebensanfangs im KZ zu erinnern.

Das ist tragisch und problematisch.

Man hat seinem Buch zuerst höchste literarische Qualität zugesprochen. Und von alldem wollte niemand mehr etwas wissen, als sich herausgestellt hatte, dass seine Geschichte wahrscheinlich nicht authentisch ist. Das finde ich erschreckend.

Mir fällt dazu etwas anderes ein. Eine jüdische Freundin – ihr Vater ist Jude, ihre Mutter nicht – erzählte mir von einer Begegnung zwischen ihr und einer bekannten deutschen Feministin, die zu ihr gesagt habe: Du bist doch gar keine Jüdin, bei dir ist doch bloß dein Vater Jude.

Das ist problematisch.

Die Nachgeborenen der Täter haben mit dem Berechnen und Nachrechnen bei den Juden noch immer nicht aufgehört. Heute rechnen sie nach, wer von den jüdischen Nachgeborenen das Recht hat, sich Jude zu nennen. Nicht, wer sich Jude nennen muss, sondern wer sich Jude nennen darf.

Wilkomirski ist so ein wichtiger Fall, weil er ja im Grunde nur ausfabuliert hat, was in einem Großteil meiner, unserer politischen Generation als Wunsch vorhanden ist.

Aber er hat diesen Wunsch in seinem Buch leider nicht thematisiert, nicht literarisch verarbeitet.

Wie fühlen Sie sich selbst situiert in dieser komplizierten literarischen Landschaft vor dem Hintergrund der politischen Vergangenheit, in der es so sehr um Verbotenes und Schuldgefühle und geheime Wünsche geht?

Der Gedanke, mein Buch ist nur deshalb so erfolgreich in Deutschland, weil es ein jüdisches Thema behandelt, wäre schon enttäuschend für mich. Ich möchte einen guten Roman geschrieben haben.

Das haben Sie.

Bei meinen Lesungen werde ich gefragt, ob der Roman autobiografisch sei. Das werden Autoren heutzutage immer gefragt. Bei diesem Thema finde ich diese Frage absolut legitim. Ich habe als jüdisch-deutsche Nachgeborene über etwas geschrieben, wovon ich selbst weiß. Dass es Juden gab in Deutschland, auch noch danach, jüdische Familien, jüdisch-gojische Familien, das hat in den Fünfziger-, Sechziger-, Siebzigerjahren niemand wahrnehmen wollen. Es gab ja nicht einmal das Wort „Jude“. Und in der DDR waren alle Widerstandskämpfer. Was gewesen ist, die Schoah, das lebt weiter in den jüdischen Nachgeborenen wie die Nazigeschichte auf der anderen Seite. Für mich ist das Besitz. Und die Frage, die mir oft gestellt wird, ob es eine Zeit geben werde, in der zwischen Juden und Deutschen alles normal sei, diese Frage finde ich furchtbar. Darin ist noch einmal eine Vernichtung verborgen. Was geschehen ist, das sind Biografien, gewaltsam abgerissene Lebensläufe, Geschichten von Juden, von Menschen. Das ist für mich Besitz, Wissen, Erzähltes, Aufgefundenes. Jüdischer Besitz. Das Nichts nach der Vernichtung, in das ich in Deutschland hineingeboren wurde, muss ich heute erzählen können. Im Übrigen war das Verhältnis der Deutschen zu den Juden nie normal.

Und welche Menschen besuchen Ihre Lesungen?

Überwiegend solche, die gar nicht jüdisch sind, aber aus meiner Generation, und in diesem Roman lesen sie von etwas, was sie als Kinder und Jugendliche miterlebt haben, ohne es zu wissen: jüdischen Familien, jüdischen Kindern und Jugendlichen in ihrer Nachbarschaft. Ich höre oft, dass der Roman viel Verschüttetes wachruft und in eigene Gefühle dieser Altersphase zurückführt, in der sich die dreizehnjährige Protagonistin Fania befindet, in der Pubertät – nicht mehr nur Kind, noch nicht Erwachsene. Zwischen zwei Welten.

Also es sind nach Ihrem Urteil überwiegend nichtjüdische Generationsgenossen?

Es kommen auch Ältere, die selbst die Nazizeit erlebt haben und im BdM oder in der Hitler-Jugend waren. Es kommen auch Juden. Meistens schweigen sie nach der Lesung in der Diskussion und kommen hinterher zu mir, um mir zu sagen, dass sie vieles im Roman erkannt haben aus ihrer eigenen Kindheit. Manche kommen auch mit ihrer Mutter oder ihrem Vater. Sie möchten mir sagen, warum sie sich nicht zu Wort gemeldet haben. Sie wollten nicht für die anderen als Juden zu erkennen sein.

Dieses Gefühl der Besonderheit.

Ja. Auch, weil sie es nicht gewohnt sind, im Beisein ihrer jüdischen Mutter das jüdische Thema für sich zu besetzen und überhaupt in der deutschen Öffentlichkeit über sich als Juden zu sprechen. Ich habe mich mit diesem Roman von solchen Ängsten frei geschrieben.

Da könnte ich Ihnen jetzt noch einmal die Frage von vorhin stellen: Sind Sie eine jüdische Autorin?

Ich möchte nicht tauschen mit den gojischen Deutschen meiner Generation. Das ist meine Antwort.

CHRISTIAN SCHNEIDER, Jahrgang 1951, Psychoanalytiker und Soziologe, schreibt regelmäßig für die taz und den Mittelweg. Im Herbst erscheint (zusammen mit Margrit Frölich und Yariv Lapid) der Band „Repräsentationen des Holocaust im Gedächtnis der Generationen“ im Verlag Brandes & Apsel (Frankfurt a. Main)