: Strampeln in der Wurfparabel
Im Sturzflug dem Traum von der Besiedlung fremder Welten ein Stück näher kommen
Vielleicht lag’s ja an der astronomischen Nähe unseres Nachbarplaneten Mars, dass kürzlich erste Ergebnisse einer Studie an die Öffentlichkeit gelangten, die sich inbrünstig mit dem Problem des Muskeltrainings unter Schwerelosigkeit befasste. Denn der rote Planet ist der guten alten Erde seit mehr als 60.000 Jahren nicht mehr so dicht auf die Pelle gerückt. Was liegt also näher, als den Traum von Besiedlung fremder Welten wiederzubeleben.
Dabei hat es uns der Mars schon lange angetan. So ließ Orson Wells in seinem 1938 gesendeten Hörspiel sogar Marsmenschen landen und stürzte halb Nordamerika in Aufruhr und Panik. In nicht zu ferner Zukunft, so das ehrgeizige Ziel, müssten willige Erdbewohner schon selbst dahin fliegen, denn Leben auf dem Mars gab es, wenn überhaupt, nur in Mikrobenform. Der Flug durchs All, selbst zu unseren nächsten Nachbarn, dauert allerdings derzeit sechs bis zehn Monate. Ein Problem, denn das Auftreten der heimkehrenden Astro- und Kosmonauten nach halbjährlichem Ausharren in Raumstationen und ihr eher erbärmlicher körperlicher Zustand in der ungewohnten Schwerkraft, sind bekannt: Die Muskeln schlaff, der Blick getrübt und mit einer Standfestigkeit, die selbst grüne Männlein zum Schmunzeln erregt hätten. Die berechtigte Frage stellt sich sofort. Wie kann eine Gruppe von wackeren Marsbesiedlern sofort nach der Landung mit der Arbeit beginnen? Die Antwort liegt auf der Hand: während des langen Flugs täglich mindestens drei Stunden auf einem alltauglichen Hometrainer strampeln. Klingt plausibel, aber Muskeltraining in der Schwerelosigkeit, wo sich selbst Essig und Öl problemlos zu einer Salatsoße mischen?
Wie kann dieser Frage also gezielt nachgegangen werden? Gravitation ist schließlich nicht per Schalter zu neutralisieren, und es ist auch kaum vorstellbar, dass, sofern Spaceshuttles wieder fliegen, ein paar Astronauten regelmäßig zum Training in die Erdumlaufbahn geschickt werden. Also muss Schwerelosigkeit simuliert werden. Wie das funktioniert, lernt schon jeder Abiturient, denn das Berechnen der Flugbahn eines geworfenen Steins ist nach wie vor in jeder Prüfungsaufgabe versteckt. Deshalb wird ein Airbus A 300 gestartet und führt über dem Meer einen physikalisch korrekten Kunstflug durch: In 6.000 Metern Höhe beginnt der Pilot einen Steigflug unter vollem Schub. Anschließend werden bei einem bestimmten Winkel die Triebwerke gedrosselt, und das Flugzeug fliegt dann, wie der geworfene Stein aus der Rechenaufgabe, auf einer parabelförmigen Bahn durch die Luft. Für kurze 22 Sekunden herrscht dabei Schwerelosigkeit. Während dieser Zeit treten Probanden so in die Pedale, wie es auch in erdoberflächlichen Krafträumen üblich ist: Hirn aus und kräftig strampeln. Um die Muskelaktivität genau zu messen, werden die Versuchspersonen an möglichst vielen Stellen mit Elektroden verkabelt, um auch das noch so kleinste Zittern festzuhalten. Da sich aber kein Muskel in so kurzer Zeit trainieren lässt, wird der Parabelflug 30 Mal wiederholt.
Die Ergebnisse sind überraschend: Das Training unter Schwerelosigkeit hat völlig verschiedene Effekte. Zum Beispiel wird die Schienbeinmuskulatur viel stärker aktiviert, als die der Waden. Das haut bestimmt jene Radfahrer aus dem Sattel, deren Muskelkater nach der letzten Tour noch in den Hinterbeinen steckt. Eine Begründung dafür gibt es noch nicht, ist aber Gegenstand einer sehr umfangreichen Analyse. Solange diese noch nicht vorliegt, darf gerne über ausgeprägte Muskelpakete an den seltsamsten Stellen bei den All-Bodybuildern spekuliert werden.
Soweit so gut, aber gegen Ende jeder Parabel fängt der Pilot den sich im Sturz befindenden Airbus ab und zwingt ihn in den üblichen Horizontalflug. Daher müssen doch erhebliche Vorkehrungen gegen die „motion sickness“, eine Art Reisekrankheit, getroffen werden. „Durch die Beschleunigung und die Steilflüge senden Augen und Gleichgewichtsorgane Informationen an das Gehirn, die inhaltlich überhaupt nicht zusammenpassen“, erklärt ein Beteiligter. Weniger vornehm ausgedrückt bedeutet dies: Der Gleichgewichtssinn spielt ordentlich verrückt, und dabei fällt einem gern das Frühstück aus dem Gesicht. Die dabei gefüllten Kotztüten können ja bei der nächstmöglichen Mission zum Mars entsorgt werden. Dann hat dieser wenigstens einen Teil der verbrauchten Energie sofort zurück. THOMAS VILGIS