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Archiv-Artikel

Elektrisiertes Dabeisein

Mit 9,89 Sekunden gewinnt man über 100 Meter keine Medaille mehr: Der Athener Männersprint war der schnellste aller Zeiten. Die Beteiligten sprechen von Stolz, weniger vom großen Verdacht

„Ich kann mit gutem Gewissen und einem lachenden Gesicht gewinnen“

AUS ATHEN FRANK KETTERER

Als sie ihre Show auf dem roten Tartan des Olympiastadions zu Ende gebracht hatten, machten sich alle gemeinsam an die Einordnung ihrer Taten, und sie übten sich dabei keineswegs in Bescheidenheit; nein, Bescheidenheit ist nicht Sache der schnellsten Männer der Welt. Kim Collins zum Beispiel sagte: „Es war ein großes Rennen und ich bin froh, dabei gewesen zu sein.“ Dabei ist Collins, der Mann von der kleinen Inselgruppe Saint Kitts and Nevis, der amtierende Weltmeister, und dass er im 100-Meter-Finale gerade Sechster geworden war, hätte ihn zufrieden eigentlich nicht machen dürfen. Aber er sah sehr zufrieden aus. Auch Asafa Powell aus Jamaika war als einer der Favoriten ins Finale gegangen, als Fünfter kam er heraus. Powell fand: „Ich bin stolz auf mich. Es war das schnellste Rennen aller Zeiten, und es ist ein unglaubliches Gefühl, dabei gewesen zu sein.“

So ging das weiter, und je besser und schneller die Protagonisten waren, umso größer wurden ihre Worte, zumal, wenn sie aus den USA stammten. Maurice Greene, der keinerlei Zweifel hegt, dass er der Größte aller Zeiten ist, befand: „Athen ist ein historischer Platz – und deshalb haben auch wir Geschichte geschrieben.“ Greene gewann Bronze in 9,87 Sekunden, von Gold und seinem Landsmann Justin Gatlin nur getrennt durch Francis Obikwelu (Portugal). Obikwelu sagte nur: „Ich wollte ins Finale – und ich wusste, dass im Finale alles möglich ist.“ Er scheint ein ungewöhnlich bescheidener Mensch in diesem Metier zu sein. Umso mehr klopfte dafür wiederum Justin Gatlin, der neue Olympiasieger, auf die Pauke. „Es war eines der besten Rennen in der Geschichte. Es war das schnellste bei Olympia. Und ich habe es gewonnen. Ich bin ein großer Champion und die anderen müssen Respekt vor mir haben.“

So war das also am späten Sonntagabend im Athener Olympiastadion, das dem großen Finale eine fantastische Bühne bot. Schon gut eine Viertelstunde vor dem Startschuss quoll Griechenlands heimliche Nationalhymne, der Sirtaki, aus den Lautsprecherboxen – und das rhythmische Mitklatschen der 70.000 Zuschauer machte das Oval zu einem brodelnden Kessel der Vorfreude, die auch die sonst so abgebrühten Sprinter nicht kalt ließ. Sie hampelten und strampelten herum wie nervöse Rennpferde. „Es war schwer, sich zu konzentrieren, aber ich habe es trotzdem genossen“, beschrieb Obadele Thompson, der Siebte, die Darbietung des Publikums. „Es hat uns alle elektrisiert“, sagte Maurice Greene.

Der Strom der Begeisterung entlud sich nach dem Startschuss: Bis 20 Meter vor dem Ziel hatte Greene die Nase vorn, und es sah so aus, als könne er das bisher noch nicht vollbrachte Kunststück schaffen, seinen Olympiasieg von vor vier Jahren zu wiederholen. Doch dann zogen Obikwelu und Gatlin an ihm vorbei. Am Ende waren die vier Besten nur vier Hundertstelsekunden voneinander entfernt, und dass für den Ersten die Zeit von 9,85 Sekunden auf der großen Videowand aufleuchtete, machte das Rennen tatsächlich zum schnellsten in der Geschichte der Olympischen Spiele.

Nun ist es natürlich etwas ganz Besonderes, den Hauch der Geschichte verspüren zu dürfen, und sei es nur für die Dauer von 100 Metern. Andererseits ist es aber auch so, dass es in betrügerischen Zeiten wie diesen mancherlei Grund gibt, sich über dieses außerordentliche Rennen ein wenig zu wundern, gerade zwei US-Amerikaner aufs Podium der Pressekonferenz steigen. An Greene, mittlerweile 30 Jahre alt, hat man sich gewöhnt. So lange ist er nun schon erfolgreich dabei, so lange wurde er von keinem Dopingfahnder erwischt. Was soll man da sagen? Justin Gatlin aber, 22 Jahre alt und damit ein Hoffnungsträger der zuletzt durch Dopingskandale so arg zerzausten US-amerikanischen Leichtathletik, ist neu auf dem Podest der Sieger – und deshalb lohnt es sich, die Frage zu stellen: „Justin, gehörst du zur young generation?“, zu jenen also, die es ganz ohne Doping versuchen, erfolgreich zu sein. Justin kennt die Frage, er muss sie nicht zum ersten Mal beantworten. Und vielleicht hat er auch deshalb die Antwort ziemlich schnell gefunden. Er formuliert sie in Sätzen wie: „Ich bin sauber, das ist Fakt!“ Oder: „Gute Athleten brauchen kein Doping. Ich kann mit gutem Gewissen und einem lachenden Gesicht gewinnen.“ Oder: „Ich zeige der Welt, dass die Leichtathletik mehr zu bieten hat als Doping. Gewinnen ist eine Charakterfrage.“

Um allen die historische Dimension seiner Tat begreiflich zu machen, sagt Justin aber auch: „Maurice Greene und Marion Jones haben Geschichte geschrieben, und ich habe jetzt auch Geschichte geschrieben. Darauf bin ich stolz.“ Diese Vergleiche versetzen einem dann doch einen Stich, weniger wegen Greene als wegen Marion Jones, die ja im Zentrum des Balco-Skandals steht. Auch wenn sie bisher noch nicht überführt werden konnte, zum Vorbild für einen jungen Sprinter taugt sie definitiv nicht mehr.

Das kann den Verdacht wachsen lassen, dass das Fabulieren von der neuen Generation sich doch mehr auf das Alter der Athleten bezieht – und weniger auf die Gesinnung. Aber wie soll sich diese auch grundlegend ändern, wenn sie von jenen geschult wird, die schon die alte, dopingverseuchte geformt haben? Sowohl Olympiasieger Gatlin als auch der Viertplatzierte Shawn Crawford trainieren in der Trainingsgruppe von Trevor Graham. Der gilt der Szene als durch und durch zwielichtige Gestalt. Graham soll es gewesen sein, der die Fahndern letzten Sommer mit anonymem Hinweis auf die Spur der Designerdroge THG gebracht und damit den Balco-Skandal ausgelöst hat. Davor war er jahrelang Trainer von Tim Montgomery und Marion Jones, gleich ein halbes Dutzend der Athleten, die bei ihm trainierten, sind als Dopingsünder aufgefallen. Was Justin Gatlin und Shawn Crawford angeht, muss das nichts heißen. Es könnte aber.