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Archiv-Artikel

Scharfsinniger Schnösel

Wie man sein Gehirn Gewinn bringend in die Falten vergangener Zeiten legen kann: Die Tagebücher des Schriftstellers, Diplomaten, Kunstmäzens und weltläufigen Dandys Harry Graf Kessler

„Dass wir nach sechs tausend Jahren so wenig weiter gekommen sind!“Kesslers Tagebuch lässt sich als eine Art Jahrhundertfenster verstehen

VON JAN SÜSELBECK

„Wir Gehirnhelden des 19ten Jh. übersehen immer die Mutter der wir unsere Civilisation verdanken, und es sieht fast so aus als wenn wir an unserer blinden Überschätzung des Intellekts dem Herzen gegenüber zugrunde gehen würden.“

Der 24-jährige Harry Graf Kessler schrieb das so hin, irgendwo auf See, am 8. Juli 1892, kurz vor Suez. Das Ende des positivistischen Fortschrittsglaubens, der das 19. Jahrhundert bestimmte, kündigt sich hier bereits an. Einem jungen Reisenden, einem weltläufigen Dandy, kommen Zweifel an der aufgeklärten Zivilisation, deren imperialistische Werte noch für unumstößlich gehalten werden. Im Telegrammstil verabschiedet Kessler ein ganzes Jahrhundert.

Über 57 Jahre hinweg, nämlich von 1880 bis zu seinem Tod 1937, schrieb der Student, Soldat, Schriftsteller, Diplomat und Kunstmäzen Kessler fast täglich seine Gedanken und Beobachtungen auf. Er bereiste fast die ganze Welt, bewegte sich als Sohn eines Hamburger Bankiers und einer irischen Adeligen überall in der High Society und lernte wie selbstverständlich die berühmtesten Politiker und Künstler seiner Zeit kennen – Begegnungen, die er dann in seinen täglichen Notaten nüchtern beschrieb.

Kesslers Tagebuch ist somit als eine Art Jahrhundertfenster begreifbar, durch das man als Leser in das Bewusstsein einer vergangenen Ära zurückspringen und sein Gehirn in die Falten vergangener Zeiten zu legen vermag, wie es der selbst ernannte Polyhistor Arno Schmidt einmal ausdrückte, als er ein uraltes Nachschlagewerk anpries. Insgesamt neun Bände von Kesslers epochalen historischen Destillaten sollen noch bis 2007 ediert werden – über zehntausend Seiten akribisch transkribierter handschriftlicher Manuskripte, die mittels eines kommentierten Registers systematisch erschlossen und von Roland S. Kamzelak und Ulrich Ott herausgegeben werden.

Zu Beginn der Neunzigerjahre hatte Kessler viel Zeit nachzudenken. Vom Dezember 1891 an war er von New York bis hinunter an den Golf von Mexiko und hinüber nach Kalifornien gefahren, hatte mit dem Schiff von San Francisco nach Japan übergesetzt, Indien bereist und schließlich Ägypten besucht. Am 13. Juli dämmert es ihm auf den berühmten Pyramiden von Gizeh: „Wenn man bedenkt, was für eine Fülle von physischer Kraft, von technischen Fertigkeiten, von sozialer Organisation und von religiösen und moralischen Anschauungen diese Denkmäler repräsentieren, so ist das Interessante nicht so sehr, dass die Menschheit schon damals solche Werke hat hervorbringen können; als dass wir nach sechs tausend Jahren so wenig weiter gekommen sind“.

Finanzielle Sorgen scheint Kessler auf seinen Reisen und auch sonst nicht gekannt zu haben. Jedenfalls ist von derlei alltäglichen Problemen im Tagebuch keine Rede. „Wann und wo er die Schiffspassagen bucht, woher ihm die Fahrpläne der Eisenbahnen in Japan bekannt sind, wie er im Hochgebirge von Darjeeling ein Hotel findet, auf welche Weise er Sprachbarrieren überwindet und die verschiedenen Währungen handhabt – über all diese praktischen Fragen erfährt der Leser nichts“, wundert sich auch Co-Herausgeber Günter Riederer in seiner kritisch kommentierenden Einleitung.

Stattdessen vertraut Kessler seinem Tagebuch immer wieder alle möglichen hochtrabenden philosophischen Exkurse an, die seine exotischen Reisebeschreibungen unvermittelt unterbrechen. So notiert er im Juni 1892 am Fuße des Himalaja über seine Lektüre von Arthur Schopenhauers „Welt als Wille und Vorstellung“: „In Schopenhauers zweitem Buch. Zu begründen dass wir den Willen unmittelbar wahrnehmen scheint er für unnötig gehalten zu haben; und doch beruht auf dieser Behauptung sein ganzes System.“ Kessler ist so gebildet, wie es sich zu seiner Zeit für einen jungen, aufstrebenden Mann seines Standes nun mal gehörte. Er zitiert und liest auch unterwegs quasi pausenlos: Philosophie, Romane und Dramen der Weltliteratur – natürlich immer in den Originalsprachen. Mit Richard Wagners Sohn Siegfried unterhält er sich in Berlin, um anderntags in seinem Tagebuch weiträumig über die musiktheoretischen Zeichen der Zeit zu fachsimpeln. Nicht zuletzt entwickelt Kessler so etwas wie eine frühe Rezeptionstheorie: „Man wird die Grundfrage der Aesthetik: ‚Was ist ein Kunstwerk?‘ nicht anders beantworten können, als indem man von den psychologischen Vorgängen im Geniessenden, statt wie bisher vom konkreten Werk ausgeht.“

Es ist faszinierend, wie man in Kesslers Alltagsbeschreibungen Höhepunkten der Kunst- und Theatergeschichte begegnet, über die man heute längst meterweise Forschungsliteratur lesen kann. Am 25. September 1894 etwa sitzt er im Deutschen Theater und sieht sich die Uraufführung von Gerhart Hauptmanns Sozialdrama „Die Weber“ an: „Viele geschminkte und Brillantenbeladene Weiber. […] Der Applaus gilt hier blos dem aesthetischen Genuss, dem Nervenkitzel […], und es folgt aus ihm noch lange nicht, dass die Klatschenden mit weniger Genuss bei Dressel Austern essen sollten, weil sie bei der Familie Baumert ein Hundefleischdiner mitangesehen haben.“

Nicht nur Kesslers Beschreibungen zeichnen die Umbrüche und Widersprüche der Zeit nach, in denen sie entstanden, sondern auch ihr Verfasser selbst präsentiert sich in ihnen als ein Kind des Fin de Siècle – mit allen Schrullen, die betuchte Eliteschnöseln um 1890 eben so haben. In Darjeeling etwa klassifiziert Kessler die Bewohner abschätzig als „eine Mischrace zwischen Hindus und Mongolen, gleichen braunen Chinesen; die Frauen sollen in ihrer Jugend hübsch sein, aber man sieht nur die alten, und die halbnackt“. In New York wundert er sich als Besucher erlesener Abendgesellschaften darüber, dass hier die Frauen alles in der Hand hätten. Dabei findet er die amerikanischen „Mädchen hübscher wie die, die man in Europa auf Bällen sieht; grosse, schlanke Erscheinungen, mit einem dunklen Teint wie Milch und Rosen; nie verlegen und doch selten vorlaut, belesen ohne blaustrümpfig zu sein, reiten ideal und tanzen wie die Sylphen“. In Berlin schließlich taxiert er eine junge jüdische Gesellschaftsdame: „Die Kleine hat kaum noch etwas Semitisches; sie ist blond, hübsch, chic; sie unterscheidet sich von den rassereinen Deutschen fast nur dadurch, dass sie mehr Champagner im Blute zu haben scheint.“

Kessler treibt sich aber nicht nur auf den Bällen der internationalen Upperclass herum, sondern lässt sich auch andere, dunklere Facetten gesellschaftlichen Lebens zeigen. So erinnert man sich frappiert an Michel Foucaults diskursanalytische Beschreibungen des total überwachten Panopticons im Strafvollzug des 19. Jahrhunderts, wenn Kessler in Philadelphia ungerührt eine Haftanstalt besichtigt. „Mit Hancock im Cherry Hill Penitentiary; das Ganze ist strahlenförmig angeordnet, sodass man von einem Punkte aus Alles übersehen kann; von den Strahlengängen gehen die Zellen ab; jede Zelle ist ungefähr vier Meter lang, anderthalb Meter breit und drei Meter hoch […].“ Angesichts dieser für seine Begriffe allzu guten Haftbedingungen fragt sich der wilhelminische Beobachter allen Ernstes: „Ist es wirklich eine Strafe, einen Mann, der für schlechte Nahrung und Wohnung zwölf Stunden am Tage arbeiten muss zu zwingen, seine Freiheit teilweise gegen ein luftiges Zimmer, reichliches Essen und verschwenderisch viel freie Zeit, in der er lesen und so ziemlich was er will thun kann einzutauschen?“

In den Südstaaten findet Kessler allerdings Zustände vor, die ihn entsetzen. Am 16. März 1892 notiert er in New Orleans: „Die Art und Weise, in der Neger gelegentlich gelyncht werden, ist grauenhaft: neulich hatte ein Neger in Texarkana eine Weisse vergewaltigt […]; er wurde ergriffen, summarisch von der Menge gerichtet, an einen Baum gebunden, mit Petroleum begossen und dann vor […] 6000 Menschen von der Frau, die er vergewaltigt hatte, angezündet und verbrannt.“ Wieder zu Hause, wird Kessler erst einmal Soldat und geht in seiner Rolle als preußischer Offiziersanwärter zu Potsdam voll auf.

Hier werden die Tagebuchnotate knapp. Bald aber machen den Autor die vielen Parforceritte, Feldwachen, Casinoabende und männerbündlerischen Bierfeste doch etwas müde, und wir werden Zeuge einer homoerotisch angehauchten Beziehung zu seinem kameradschaftlichen Zimmergesellen Otto Freiherr von Dungern. Beide baden gemeinsam nackt in brandenburgischen Bächen und ziehen sich nach enthusiasmierten militärischen Ausritten gemeinsam in die Kammer zurück. Drollig, wie Riederer im Vorwort versucht, dies herunterzuspielen: „Die von einigen Vertretern der biographischen Forschung Kesslers so eindeutig konstatierte Homosexualität bedarf wohl einer differenzierten Sichtweise.“

Zu guter Letzt erkennt man im Tagebuch auch den Kunstmäzen Kessler. Nach seiner Militärzeit und dem für ihn enttäuschenden Referendariat im Justizdienst – seine juristische Dissertation scheint ihn nur ein paar Besuche bei älteren Herren und einige Nachmittage am Schreibtisch gekostet zu haben – besinnt sich Kessler zusehends darauf, ein Leben als finanzmächtiger Kunstförderer zu führen. Der lapidare Eintrag am 1. 11. 1894 hat es in sich: „Um den Tisch herum sehr bald jene schwüle Venusbergatmosphäre, die von allen Modernen […] unzertrennbar ist, wie die Geilheit vorm Zeugungsakt. Als Resultat übrigens dem Pan beigetreten.“

Der Pan war jene legendäre, bis 1900 erscheinende Zeitschrift, deren Anspruch war, einen vom Publikumsgeschmack unabhängigen Überblick der zeitgenössischen Kunst und Literatur zu liefern. Kessler wurde Mitglied der Genossenschaft und mauserte sich zu einem glühenden Verteidiger der modernen Kunst. Als Mitglied der Redaktionskommission verhandelte er mit den wichtigsten Künstlern und Literaten seiner Epoche, um sie als Beiträger für den Pan zu gewinnen.

Das ist der Grund dafür, dass sich der heutige Leser in der glücklichen Situation befindet, in Kesslers Tagebuch Leuten wie Edvard Munch, Max Klinger, Fidus oder Max Liebermann zu begegnen, als handele es sich um ein paar nette Jungs aus der Nachbarschaft: „Nach dem Frühstück mit Bodenhausen zu Munch und Fidus. Munch haust in Charlottenburg vier Treppen hoch in einer Studentenbude.“

Harry Graf Kessler: „Das Tagebuch 1880–1937“. Zweiter Band: 1892–1897. Klett-Cotta, Stuttgart 2004, 777 Seiten, 58 €. Der dritte Band, 1897–1905, erscheint Ende September