: Karambolage mit Kant
Das Evangelium nach Immanuel Kant, dekantiert: Die Tagung „Erinnerung an einen Zeitgenossen“ auf Schloss Elmau porträtiert den Königsberger Alleszermalmer als liebenswürdiges Superhirn mit einer Passion für letzte Fragen
VON ARNO ORZESSEK
Als Immanuel Kant noch Emanuel Kant hieß, nämlich während der Schulzeit am Königsberger Collegium Fridericianum, hatte er Gelegenheit, das kleine, hölzerne „Observatorium“ auf dem Dach der so genannten Pietisten-Herberge zu benutzen. Es war dort aufgestellt worden, um den geneigten Betrachtern des Sternenhimmels einen Eindruck von der Größe des Allmächtigen zu geben. Obwohl Kant später nicht mehr auf diese Apparatur reflektierte, kann ohne Risiko behauptet werden: Zum wahren Glauben ist der junge Emanuel im Observatorium nicht gekommen, aber er hat die rätselhafte Unermesslichkeit des Alls und die Stimmung des Gemüts, die sie auslöst, schätzen gelernt. Das zeigt das Frühwerk „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels“ – Kants Kosmologie ohne Gott, notiert in der Klangfarbe eines erhabenen Nocturne.
„Kants Reise in den Himmel“ überschrieb nun Manfred Geier, Autor der Biografie „Kants Welt“, sein Eingangsreferat zur Tagung „Erinnerung an einen Zeitgenossen“ auf Schloss Elmau. Indem Geier nach ausführlicher Beschreibung von Kants letzten Tagen zur Naturgeschichte wechselte und in atemberaubenden Zitaten einen prometheischen Abenteurer der Geisteswelt vorstellte, der sich gleich mal mit Isaac Newton anlegt und offenbar aller Limits spottet – „Gebet mir Materie, ich will eine Welt daraus bauen!“ –, gab er der Veranstaltung den Grundton vor. Es sollte um den Fleisch-und-Blut-Menschen Immanuel Kant gehen, der mit den seit 200 Jahren umlaufenden Klischees vom „Begriffskrüppel“ (Georg Simmel) nichts gemein hat – und schon gar nicht mit jenem Gespenst ohne „Leben und Geschichte“, das Heinrich Heine erfand.
Natürlich passt ein solches Kant-Porträt quasi vor dem Hintergrund des Universums besonders gut nach Schloss Elmau, wo sich der Himmel hoch über der Felsenwand des Wettersteingebirges aufspannt und die Zipfel des Erhabenen leicht zu erhaschen sind. Und da die Gelehrten auf dem Schloss stets (auch) antreten, um den Hotelgästen intellektuelle Kurzweil zu bieten, muss theoretisch ausgehärtete Exegese allemal sparsam dosiert werden. Doch Kant leichter zu machen – was immer heißt, die einschüchternden drei Kritiken nicht als archimedischen Punkt zu nehmen – ist die generelle Tendenz des Kant-Jubiläums und der neuen Kant-Biografien (von Manfred Geier, Manfred Kühn und Steffen Dietzsche). Mit den Worten von Volker Gerhard, dem Berliner Philosophen und Tagungsleiter von Elmau, geht es darum, „den systematischen Ertrag der Philosophie nicht von der Erfahrung der Person und ihres Zeitalters“ abzulösen.
Diese Trennung war ja gerade der Grund für das beliebte „Kant-Bashing“, wie es die Zürcher Philosophin Pia Jauch nannte, die insgesamt 160 Verächtlichmachungen aus Dichterfedern gezählt hat – von Goethe bis Cioran und von Jean Paul bis Hugo Ball. Dem stehe blinde Verehrungswut in ähnlicher Größenordnung gegenüber. Jauch indessen verließ die „ausgetretenen Heeresstraßen der Kant-Lektüre“. Sie kalauerte, dass man Kant „dekantieren“ müsse. Sie entdeckte in den kleinen Schriften und Notaten einen packend bis dreist formulierenden Denker, wie sie ihn nur in Lichtenbergs Sudelbüchern vermutet hätte. Schlussendlich tat Jauch ihre Sympathie für den „brüchigen, zweifelnden und gelegentlich sogar sich selbst widersprechenden Kant“ kund.
Das war plakativ und das hatte Sound. Allein, das methodisch Interessante, nämlich der Verstoß gegen das hermeneutische Prinzip, stets nach Konsistenz eines Werkes zu suchen, fand keine weitere Beachtung. Überhaupt vollzog sich die Erleichterung Kants in einem flotten methodischen Durcheinander, das nicht weiter aufgeklärt wurde – was strenger zu tadeln wäre, wäre man in Elmau nicht (auch) an einem Kurort der Seele. Da mag man selbst Beatrix Himmelmanns gedehnte Nacherzählung von Kants Philosophie des Glücks aushalten, in der die Referentin ihren Schutzbefohlenen erst gegen drittklassige Gegner verteidigte, um sogleich im Predigerton das Evangelium nach Kant zu verkünden, das dann doch von Pflicht und Disziplin und diesen Dingen handelt.
Dafür bot der zweite Tag eine hochinteressante Überkreuz-Stellung von Themen und Methoden. Die gerade erst promovierte Elif Özmen vom Münchener Lehrstuhl Julian Nida-Rümelins und die in St. Louis lehrende Pauline Kleingeld traten mit dem Rüstzeug der analytischen Philosophie ans Pult. Aber während Özmen überzeugend argumentierte, dass der moralisch Handelnde bei Kant sehr wohl Vernunft und Leidenschaft verbinden kann und nicht etwa zum mechanischen Vollzug abstrakter Regeln gezwungen wird – kurz und gut: „dass der moralisch Handelnde kein moralisch Heiliger ist“ –, überspannte Kleingeld ihre Analyse von Kants Argumenten für den Völkerbund und begrub jede Relevanz unter immer neuer Sekundärliteratur. Womit unter der Hand Möglichkeiten und Grenzen der analytischen Methode beim mündlichen Vortrag sichtbar wurden.
Das Völkerbund-Problem hatte Kleingeld Kants berühmter Kurzschrift „Zum ewigen Frieden“ von 1795 entnommen, deren Stichhaltigkeit und Prognose-Qualität dann den Politikwissenschaftler Peter Graf von Kielmansegg beschäftigte. Der Graf hält „Zum ewigen Frieden“ keineswegs für eine transzendentale Vision oder bloße „Nachricht aus dem Paradies“, sondern für ein Vernunftprogramm und Kalkül, das schon wegen seiner Vertragsform auf die Realität gemünzt ist. Mit seiner Behauptung, dass unter Republiken (wir würden sagen: Demokratien) keine Kriege stattfinden, hat Kant nach der empirischen Beobachtung von Kielmanseggs ins Schwarze getroffen, das Problem der Befriedung ungleich organisierter Staaten oder gar nichtstaatlicher Mächte indessen offen lassen müssen, womit ein Hauptproblem der Gegenwart nicht à la Kant zu lösen ist.
Das Ethos unter Staaten ist bei Kant, kriminell verkürzt gesagt, eine Fortentwicklung der Ethik, die das Handeln des Einzelnen und das Miteinander von Personen regelt. „Die Menschheit in meiner Person“ nannte Volker Gerhard konsequenterweise sein Referat zur kritischen bzw. „exemplarischen“ Ethik und nahm im Titel die Pointe vorweg: Der Einzelne müsse sich zwar immer fragen: Was soll ich tun? – aber seine moralische Antwort in einem Rahmen geben, „den man Vernunft oder eben Menschheit“ nennen könne. Und der gefürchtete kategorische Imperativ? Den Preis für die größte Erleichterung, wie man sagen möchte, errang Rüdiger Safranski. Er diente mit der These, dass „99 Prozent unserer Lebensbezüge“ moralisch indifferent sind, womit der Kantische Imperativ nur bei Sondereinsatzkommandos des Gewissens gebraucht wird. Safranski fand qualifizierte Unterstützung bei Elif Özmen, die den Menschen eine patente und weitgehend intakte Alltagsmoral zugestand, der die „theoretische Moral“ nur im Notfall zur Hilfe kommen müsse.
Volker Gerhard, Mitglied im Nationalen Ethikrat, leitete die Tagung, ohne ein einziges Mal darauf einzugehen, dass ihn Christian Geyer just vor Tagungsbeginn auf der Titelseite der FAZ als „philosophisches Faktotum“ und Apologeten von „Euthanasie und Eugenik“ verunglimpft hatte. So viel Beherrschung verdiente insofern Beachtung, als dass sich FAZ-Geyer eine Einladung zum kommoden Familienurlaub in Elmau verschafft hatte und sein Essen zwei Tische weiter einnahm. Von Dritten wurde derweil diskutiert, ob Geyers erstaunliches Verhalten – erst ordentlich beleidigen, dann alle Gratifikationen einfordern und abräumen – wohl allgemeines Gesetz unter Journalisten werden könne.
Schließlich kehrte die Tagung zum Anfang zurück, den Manfred Geier gesetzt hatte: dem Tod. Birgit Recki untersuchte die spärlichen Todesreflexionen in Kants Werk und zeigte, dass Kant – hierin Goethe ähnlich – das permanente Eingedenken des Todes nach dem Vorbild Montaignes nicht schätzte, weil es in praktischer Hinsicht den lebendigen Handlungstrieb schwächt und in theoretischer Hinsicht ein steriles Problem bleibt.
Deshalb durfte der Tod auch nicht das letzte Wort haben. Rüdiger Safranski, dessen neue Schiller-Biografie schon den Büchertisch schmückte, stellte in gewohnt attraktiver Diktion Friedrich Schiller als ersten Schüler Kants vor, der seinen Lehrer in der Ästhetik noch übertraf und mit seinem Spielverständnis – „Der Mensch … ist nur da Mensch, wo er spielt“ – nicht weniger als eine moderne Kulturtheorie lieferte. Schillers Utopie von der spielenden Gesellschaft, so Safranski mit Blick auf Olympische Spiele und Europameisterschaft, „hat sich auf überraschend banale Weise verwirklicht“. Von dem begabten Billardspieler Kant indessen wissen wir, dass er das Spiel mit Bällen und Queue recht ernsthaft betrieb: Er veranschlagte den Geldgewinn zum Lebensunterhalt.