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Archiv-Artikel

Warum ich zu Montagsdemos gehe

betr.: „Ein seltsames Völkchen, das Volk“ von Barbara Bollwahn, taz vom 19. 8. 04

Das letzte Mal hatten wir die Wahl zwischen Schröder und Stoiber. Weil ich es nicht ertragen hätte, durch Nichtwählen Herrn Stoiber einen Vorteil zu verschaffen, wählte ich das andere Übel. Nach dieser Wahl wurde sehr schnell klar, dass ich mich habe hereinlegen lassen, dass die auch von mir gewählten Personen alles andere, nur nicht das vertreten, wofür ich sie gewählt hatte. Ich habe mich geschämt, zur Wahl gegangen zu sein, und ich nehme es mir immer noch übel.

Mittlerweile ist aus der angeblichen Demokratie eine offensichtliche Wirtschaftsdiktatur geworden. Statt für teure PR-Maßnahmen zahlen zu müssen, missbraucht die Wirtschaft die Politiker zur Umsetzung ihrer Wünsche. Wenn ein gewählter Volksvertreter das Volk nicht mehr vertritt, muss er oder sie, soweit sie nicht mehr in der Lage sind, dieses zu erkennen, daran erinnert werden, wer das Volk ist und was das Volk will.

Ich bin Jahrgang 1963 und aus dem Westen. In der Schule und durch Erzählungen von Menschen, die das Dritte Reich und die Folgen live erlebten, bin ich dazu erzogen worden, mich für das, was in diesem Land passiert, mitverantwortlich zu fühlen. Uns wurde das kritische Denken gelehrt, uns wurde beigebracht, dass Mut und Courage zu einem guten Leben gehören. Unerträglich und unverständlich der Ruck nach rechts zu Zeiten Kohls, die lähmende Wirkung der Fassungslosigkeit. Empörung jetzt, wo es die SPD zwar dem Namen nach noch gibt, doch das Erbe unwiederbringlich zerstört ist. Und eine enorme Wut, weil von zu vielen Seiten auf die geschissen wird, die damals und heute für ihre und unsere Rechte gekämpft haben. Soll ich mir die von Journalisten – wahrscheinlich wegen der Kürze der Berichte auf Wiedererkennungswert ausgesuchten – Bilder im TV ansehen und so zu einer Be- und Verurteilung der Demonstranten kommen? […] Letzten Montag war ich dabei und werde auch am kommenden wieder mitgehen. […] INA GROTHE, Berlin

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