Im russischen Untergrund

In Lettland leben hunderttausende Russen – und verzichten auf ihre Staatsbürgerschaft, weil sie sich nicht lettifizieren wollen. Porträts einer Minderheit vor dem heutigen Referendum zur Europäischen Union

von BARBARA OERTEL (Texte) und NICO SCHMIDT (Fotos)

Irina Vinnika, Journalistin. Die Tische im großen Saal des Baltisch-Russischen Instituts, dessen Fakultäten sich auf mehrere graue Plattenbauten in Rigas Viertel Moskauer Vorstadt verteilen, sind festlich gedeckt. Mehr- und Wenigerprozentiges, dazwischen Gebäck und andere koschere Köstlichkeiten. Gleich beginnt der jüdische Kulturabend, den Studenten des Instituts organisiert haben.

Für Irina Vinnika, eine hochgewachsene, schlanke Frau mit einer imposanten Prinz-Eisenherz-Frisur, Journalistin des lettischen Staatsfernsehens TV 7, ist dies heute ein Pflichttermin. Denn seit kurzem verantwortet sie als Redakteurin eine Sendung, die über nationale Minderheiten in Lettland berichtet.

Vinnika kämpft sich mühevoll durch das Publikum hindurch. Fast jeder will mit ihr reden. Endlich hat sie ihren Kameramann erreicht. Kurz und präzise sind die Anweisungen. Während der Kollege sich vor der Bühne postiert, verschwindet sie hinter den Kulissen zum Interview. Knapp vierzig Minuten später ist das Material im Kasten und Irina auf dem Weg zurück in die Redaktion.

Seit fast 25 Jahren arbeitet die 55-jährige Biologin bei TV 7, die meiste Zeit in der Nachrichtenredaktion für russischsprachige Nachrichten. 1991, kurz nach der Unabhängigkeit Lettlands, wäre ihre berufliche Laufbahn fast zu Ende gewesen. Das war, als sie in einer Informationssendung massive Preiserhöhungen für Lebensmittel bekannt geben musste. Erboste TV-Zuschauer verlangten daraufhin von der Senderleitung, „die russische Schlampe“ fortzujagen. „Als ich nach Hause kam, habe ich stundenlang geweint“, erzählt sie, „für mich stand fest: Ich gehe.“

Doch sie blieb. Vielleicht war es dieses Schlüsselerlebnis einer bis dahin nicht gekannten Diskriminierung, das Vinnika dazu bewog, sich in den folgenden Jahren intensiv mit dem Thema Minderheiten in Lettland auseinander zu setzen. Das tut sie bis heute und nicht nur als Journalistin. So ist sie Mitglied der Soros-Stiftung sowie der nationalen Menschenrechtskommission.

Auch an der Einbürgerungskampagne, die im Februar vergangenen Jahres auslief, hatte sie sich aktiv beteiligt, genauso wie am jetzigen Werbefeldzug, der die Menschen zur Teilnahme an der Abstimmung über den Beitritt zur Europäischen Union bewegen soll. „Ich komme mir da manchmal wie eine Psychotherapeutin vor. Doch die Leute glauben mir, weil sie mich aus dem Fernsehen kennen“, sagt Vinnika.

Das Schlimmste sei, dass die Menschen ihre Rechte gar nicht kennen würden. „Ich versuche ihnen dann immer klar zu machen, dass es erniedrigend ist, keine Rechte zu haben, aber doch nicht erniedrigend, für seine Rechte zu kämpfen.“ Für viele, vor allem ältere Russen sei der Zug abgefahren, sie selbst aber an der Haltestelle zurückgeblieben. „Die Regierung muss endlich mal Farbe bekennen und den Menschen klar machen: Ihr gehört zu uns und wir brauchen euch. Doch diese Message kommt nicht.“

Lettische Staatsbürgerin ist Irina seit 1998, „auf dem Weg über die normale Einbürgerung“, wie sie mit Nachdruck betont. In ihrem Falle wäre es auch anders gegangen. Eine spezielle Regelung im Gesetz sieht vor, dass jemand auch aufgrund besonderer Verdienste die lettische Staatsbürgerschaft bekommen kann. Die dazu nötigen Unterschriften von zehn Parlamentsabgeordneten hatte Irina schnell zusammen.

Als sie für dieses Privileg noch vor einer Kommission diese „Auszeichnung“ selbst begründen sollte, verweigerte sie sich. „Ich fand dieses Verfahren demütigend. Und meine Loyalität dem lettischen Staat gegenüber habe ich ja wohl oft genug bewiesen.“

Das will Vinnika auch weiter tun, doch es wird ihr nicht leicht gemacht. Denn sie sitzt dauernd zwischen zwei Stühlen. Wie unangenehm dieser Platz ist, hat sie erst neulich wieder erfahren. Da trat in ihrer Sendung über die russische Minderheit eine Frau auf, die über ihre Erfahrungen berichtete, fünfzehntausend russische Bücher, die lettische Bibliotheken ausrangiert hatten, an Waisenhäuser zu verteilen. Das Angebot wurde dankend abgelehnt. Es hieß lapidar, man habe die russischen Klassiker bereits in den Regalen – auf Lettisch: Als ob es nicht auch russischsprachige Waisen gäbe.

Kurz darauf musste sich Vinnika von ihren TV-Kollegen die misstrauische Frage gefallen lassen, warum sie dem russischen Chauvinismus ein Forum biete. „Das war wieder einer dieser Momente, wo ich dachte, ich schaffe das nicht mehr“, sagt Irina Vinnika.

Doch auch diese deprimierte Stimmung verflüchtigte sich wieder. So sagt sie heute: „Aufhören kann ich nicht, denn das alles lässt mich nicht kalt. Ich sitze nun mal in der Mitte und will auch weiter versuchen, eine Brücke zwischen Letten und Russen zu sein.“

Der Weg wird noch lang und gewiss nicht immer leicht zu gehen sein. „Doch hoffnungslos“, sagt sie, „ist der Weg nicht.“

Marina Beloussowa, Rentnerin. Man hätte ihren Rat beherzigen sollen, als sie sagte: „Wenn Sie zu mir kommen, bringen Sie eine Taschenlampe mit oder wenigstens ein Feuerzeug.“ Über ausgetretene Stufen stolpernd tasten sich die Besucherin und der Besucher in dem stockdunklen Hinterhaus in der Pernavasstraße, zehn Busminuten entfernt von der Rigaer Altstadt, den Weg hinauf in den fünften Stock.

Auf ein Klopfzeichen hin ertönen ein fast militärisches „Da!“ und Hundegebell. Eine Minute später steht man, eingeklemmt zwischen Herd, Spüle und der molligen, kleinwüchsigen Frau – die schwarzen Haare zu einem dicken Dutt hochgesteckt –, in einer winzigen Küche und versucht, die Annäherungsversuche einer kindshohen Schäferhündin abzuwehren. „Uihh, uihh, meine Gerda“, sagt Marina und drückt ihr Gesicht liebevoll auf die Hundeschnauze. „Ich teste meine Gäste immer mit Gerda. Menschen können sich täuschen, aber Tiere, die nicht.“

Dann führt Marina Beloussowa ihre Gäste ins Wohnzimmer. An einer Wand steht in der Mitte ein Klavier, links und rechts eingerahmt von Regalen, die die Last der russischen Klassiker kaum noch tragen können. In einer Ecke gegenüber ein Kachelofen, in einer anderen ein abgewetztes Sofa, davor ein runder Tisch aus dunklem Holz. An der Wand darüber hängt ein vergilbtes Plakat, das in großen kyrillischen Lettern ein Konzert ankündigt – alles zeigt, dass ein altes Leben sich neue Interieurs kaum leisten kann.

Frau Beloussowa lässt ihren Blick durch das Zimmer schweifen. „Diese Wohnung ist mein ganzer Stolz. 1980 habe ich sie vom Staat bekommen, umsonst“, sagt sie. „Das war eine Anerkennung für meine Arbeit.“

1961 kam die heute 62-Jährige, die im weißrussischen Liga geboren ist, nach Riga, um dort zu studieren. Sie absolvierte eine Musikschule, dann das Konservatorium, lernte ihren späteren Mann – einen Letten – kennen, heiratete und blieb. Fast dreißig Jahre unterrichtete sie als Lehrerin an verschiedenen Schulen. „Meine Arbeit, das war alles für mich. Allen meinen Schülern habe ich mein Herz und meine ganze Liebe gegeben“, sagt sie stolz. Ihr Gesichtsausdruck verklärt sich. Sie sagt: „Sie glauben ja gar nicht, wie wunderbar das war. Wir reisten damals quer durch die Sowjetunion und gaben oft Konzerte.“

Doch dann kam das Jahr 1991. Mit der Unabhängigkeit Lettlands vom mächtigen Russland gab es nicht nur für diese Russin ein abruptes Ende des Traums von einer ewig währenden Sowjetunion mit gesicherter Versorgung bis zum Grab und garantierter Honorierung der Lebensleistung. „Heute bin ich hier ein Niemand“, sagt Frau Beloussowa bitter, wobei sich in ihre Stimme ein aggressiver Unterton mischt. „Ich bekomme nur 36 Lat Rente, denn meine Arbeitsjahre in der Sowjetunion wurden mir nicht angerechnet. Eigentlich müsste ich mich dringend einer ärztlichen Untersuchung unterziehen. Doch das kostet jetzt achtzehn Lat – dieses Geld habe ich nicht.“

Und doch: Obgleich quasi über Nacht von einer Angehörigen einer Besatzungsmacht zu einer Fremden im Land geworden – Resignation war und ist ihre Sache nicht. So machte sie sich vor einigen Jahren auf den beschwerlichen Weg der Einbürgerung. „Sogar einen kurzen Aufsatz auf Lettisch habe ich geschrieben“, sagt sie heiter. „Ich hätte nie gedacht, dass ich so etwas könnte.“

Dann holt sie, wie zur Bestätigung und zum Beweis des eben Erzählten, den blauen Pass hervor, der sie als lettische Staatsbürgerin ausweist: der Lohn all der Mühen, in Lettland nicht mehr Bürger zweiter Klasse sein zu müssen.

Hat er ihr genützt? Wieder lacht Marina, doch es klingt bitter. „Ich habe mich mehrmals in Musikschulen beworben und wurde abgelehnt. Ein ums andere Mal sagte man mir: ‚Sie haben einen Akzent. Hier in der Schule aber muss man ganz rein sprechen.‘ Wissen Sie, ich spreche nicht schlecht, doch das reicht denen eben nicht.“

Marina Beloussowa blickt ratlos vor sich auf den Tisch. Kurz darauf ist es vorbei mit der vornehmen Zurückhaltung. „Die lettische Regierung möchte uns Russen doch am liebsten aus dem Land treiben. Oder, dass wir hier alle verrecken. Das würde ihnen auch gut passen. Aber wo sollen wir denn hingehen? Ich bin zwar Russin und auch stolz auf meine Nationalität. Aber Lettland ist doch jetzt meine Heimat.“ Kurz hält sie inne. „Bitte, wenn Sie über mich schreiben, erwähnen Sie meinen Namen nicht. Den Letten wird nicht gefallen, was ich sage. Und vielleicht werden sie mich dafür verfolgen.“ Wie möchte Sie denn vorgestellt werden? „Schreiben Sie ‚Frau Beloussowa‘, das war eine wunderbare russische Eisläuferin.“

Nach ihrer Pensionierung im Jahre 1996 verdiente sie sich mit Privatschülern etwas dazu. Doch auch das ist jetzt vorbei. „Die Leute können sich das heutzutage nicht mehr leisten.“ Jetzt will sie ihr Wohnzimmer an einen Studenten vermieten – für 30 Lat im Monat. „Ich nehme aber nur einen Letten“, sagt Marina kategorisch und deutet auf ihre Regale. „Die klauen wenigstens keinen russischen Bücher. Die Bücher aber, die sind meine Kinder, mein Reichtum, alles, was ich noch habe.“

Ist alles gesagt? Nein, die alte Musiklehrerin setzt sich ans Klavier. Die ersten Akkorde erklingen, dann setzt ihre dunkle, leicht belegte Altstimme ein und stimmt ein „Ave Maria“ an. Es scheint, als wüchse sie mit jedem Takt ein bisschen mehr. Fast wie in alten Zeiten

Pawel Bogdanow, Art Director eines Sexclubs. Die Adresse, der Aspazijas Boulevard direkt in der Rigaer Altstadt, ist nobel, das Interieur ist es auch: Zehn Lat, rund fünfzehn Euro, der freundlichen Dame im schicken Kostüm am Empfang auf den Tisch gelegt, ein paar verchromte Stufen nach unten, vorbei an verspiegelten Wänden – und schon steht man mittendrin im „Dolls Club“, dem „ersten High-Tech-Strip-Club in den baltischen Staaten“, wie die farbige Hochglanzbroschüre behauptet.

Gerade läuft die Schwesternnummer. Eine junge Frau mit Häubchen auf dem Kopf, appetitlich in ein knapp sitzendes Lackdress und Strapse verhüllt, wickelt sich auf einer Art Laufsteg geschmeidig um eine Eisenstange, um sich dann, die Beine gespreizt, ganz langsam daran hinuntergleiten zu lassen. Derweil sorgen nicht nur mäßig bekleidete und perfekt gestylte Kellnerinnen für das kulinarische Wohl der Gäste. Eine Kollegin der gut gebauten Krankenschwester hat sich einem Herrn auf den Schoß gesetzt und bewegt sich rhythmisch vor und zurück. Ein männliches Mitglied der Truppe, nur Ledershorts und Lackstiefel am Körper, nähert sich von hinten einer weiblichen Besucherin und fährt mit seinen Händen sacht über ihren Körper.

In einer Ecke, lässig an die Bar gelehnt, verfolgt Pawel Bogdanow das Geschehen. Auf den ersten Blick wirkt der junge Russe mit halblangen, gewellten Haaren, dessen durchtrainierter Körper in einem schrillen langärmeligen T-Shirt und mit Ornamenten bedruckten Schlagjeans steckt, wie aus einem deutschen Jugendfilm der Siebzigerjahre – und hier doch etwas fehl am Platze.

Doch der Eindruck trügt: Bogdanow ist Art Director des Etablissements und damit einer der wichtigsten Leute hier. Hin und wieder verlässt er seinen Beobachterposten und widmet sich ausgiebig der Kundenpflege. Ein Händeschütteln hier, ein kurzes Schulterklopfen da – man kennt sich eben. Auch heute scheinen sowohl die Show wie das Ambiente überhaupt zu stimmen.

Zum Gespräch bittet Bogdanow in sein kleines Büro im ersten Stock des Clubs und damit außer Hörweite der dröhnenden Musik. Doch der 27-Jährige schafft es kaum, einmal mehr als drei Sätze aneinander zu reihen. Schuld ist nicht mangelndes Sprachvermögen, wenngleich sich sein Mitteilungsbedürfnis in Grenzen hält, sondern ein Handy. Es klingelt unentwegt. Nach der Anzahl der Termine und Verabredungen zu schließen, dürfte sein morgiger Arbeitstag knapp 36 Stunden haben.

Bogdanow managt den Club seit dessen Eröffnung vor knapp sieben Monaten. Art Director – eine Berufsbezeichnung, die mittlerweile auch problemlos ins Russische Eingang gefunden hat. Und sie meint, dass er verantwortlich ist für Musik, Bedienung, Reklame. „Marketing eben“, wie Pawel sagt. Obendrein ist er für die Auswahl der StripperInnen verantwortlich.

Und berichtet: „Wir haben auch Lettinnen, aber häufig kommen die Mädchen aus Litauen, Russland, Weißrussland und der Ukraine. Ich fahre da selbst mit einem Kollegen hin, um sie auszusuchen.“ Diese Findungsmissionen sind alle drei Monate fällig, denn so oft wechselt die Crew.

„Wir wollen den Gästen immer mal wieder neue Leute präsentieren.“ Das sei auch ein Markenzeichen eines exklusiven Clubs. Denn, so Bogdanow, „wir haben hohe moralische Ansprüche. Die TänzerInnen ziehen sich bei uns nie ganz aus. Wir wollen nichts Dreckiges.“ Deshalb habe das alles auch mit Prostitution nichts zu tun – schwer zu glauben, wo doch der Club auch vier Hotelzimmer vermietet, für die stundenweise bezahlt werden kann.

Seit zehn Jahren arbeitet Pawel im „Klub-Business“. Dieser Bereich sei schwierig, immer wieder müsse etwas Neues her, denn die Leute seien mittlerweile sehr anspruchsvoll. Und doch: „Mir gefällt meine Arbeit. Ich habe das Gefühl, hier etwas auf die Beine zu stellen.“

Bei seinem beruflichen Erfolg dürfte ihm die harte Moskauer Schule der Unterhaltungsbranche – in der Bogdanow sich exzellent auskennt – zugute kommen. Doch bleiben wollte Pawel in der russischen Hauptstadt nicht. „Ich bin in der Nähe von Riga geboren und liebe diese Stadt. Für mich ist das Heimat.“ Dass er nicht lettischer Staatsbürger ist, stört ihn nicht. „Ich hatte bisher keine Zeit, mich um die Einbürgerung zu kümmern“, sagt er und fügt hinzu: „Was soll’s, auf meine Geschäfte hat das sowieso keinen Einfluss.“

Dann lächelt er kurz – zum ersten Mal, seit er das Büro betreten hat. „Es ist schon absurd. Fünf Jahre hintereinander bin ich als Mitglied der lettischen Nationalmannschaft bei internationalen Wettbewerben für Sportakrobatik angetreten. Zuletzt 1997. Wir waren sogar im Finale. Nach einem lettischen Pass hat da keiner gefragt.“

Das könnte sich bald ändern, und zwar dann, wenn sich Pawel seinen Traum erfüllen will: einen eigenen Club. „Jetzt arbeite ich ja vor allem für die Chefs vom ‚Dolls Club‘, zwei Russen aus Moskau und St. Petersburg“, sagt Pawel und macht gleich klar, dass weitere Nachfragen unerwünscht sind. Konkrete Ideen habe er schon, und gewiss sei er kein Utopist. „Hier bindet einem niemand mehr die Hände. Man muss sich nur bewegen, dann ist alles erreichbar“, sagt Pawel. Man hat keinen Grund, an ihm zu zweifeln. BARBARA OERTEL

BARBARA OERTEL, Jahrgang 1964, taz-Osteuroparedakteurin, lernte die Porträtierten bei ihrem zweiten Lettlandbesuch kennen. NICO SCHMIDT, Jahrgang 1967, lebt in Berlin und arbeitet für die Agentur images.de. Schwerpunkte: Essays und Reportagen aus Russland