Sex, Sünde,Sozialismus

Schweden hat die Leistungen des Sozialstaates massiv abgebaut. Doch in der UN-Liste der „lebenswerten“ Länder rangiert das nordeuropäische Land immer noch an der Spitze

von REINHARD WOLFF

„Irgendwie haben wir es wohl mit allen diesen S“, augenzwinkert die neueste bunte Hochglanzbroschüre, mit der Schweden sich dem ausländischen Besucher auf 32 Seiten präsentieren will: Sex, Sünde, Selbstmord, Sozialismus. Gleich im Vorwort wird klar, wie stolz die Schweden sind, „sich als kleine nordische Nation im Lauf von weniger als einem Jahrhundert von einem armen, unterentwickelten Bauernland in einen der modernsten Wohlfahrtsstaaten der Welt verwandelt zu haben“.

Innerhalb von nur fünf Jahren sind die Jahreseinkommen der Wirtschaftsbosse um 70 Prozent gestiegen und betragen nun das 32fache eines durchschnittlichen Angestelltenlohns. Zugleich liegt Schweden auf Platz zwei der weltweiten UN-Rangliste über „menschliche Entwicklungsmöglichkeiten“. Zwei Meldungen der Wirtschaftsseiten schwedischer Zeitungen in den letzten Wochen. Zwei Seiten einer Medaille.

Der schwedische Wohlfahrtsstaat, entwickelt in einer seit den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts nahezu ununterbrochenen Regierungszeit der Sozialdemokraten, wollte eine umfassende staatliche soziale Sicherheit bieten. Ein „folkhem“ („Volksheim“) nach dem Prinzip „von jedem nach seinem Vermögen für jeden nach seinem Bedürfnis“.

Mit der Folge, dass Schweden bis zur Wende in den 80er-Jahren die ausgeglichenste Einkommensverteilung aller OECD-Länder aufweisen konnte.

Die Zielvorgabe für die Finanzierung dieses Wohlfahrtsstaats – ein jährliches Wirtschaftswachstum von rund zwei Prozent – konnte seit Mitte der 80er-Jahre allerdings nicht mehr gehalten werden.

Schwedens Niedergang zu Beginn der 90er-Jahre erinnert in mehrfacher Beziehung an die aktuelle Situation in Deutschland. Die wirtschaftliche Wachstumsrate hinkte immer mehr hinter dem Durchschnitt vergleichbarer OECD-Länder hinterher.

Zwischen 1990 und 1994 erlebte das Land eine Wirtschaftskrise, die in dieser Form beispiellos war: Die Industrieproduktion fiel deutlich, die Arbeitslosigkeit kletterte auf 14 Prozent. Das Haushaltsdefizit lag mit 13 Prozent an der Spitze der westlichen Industrieländer. Mitten in dieser schwersten Krise seit den Dreißigerjahren wählten sich die Schweden 1994 eine sozialdemokratische Regierung, deren Botschaft eindeutig war: Der Sozialstaat muss kräftig zurückgeschnitten werden, um wenigstens dessen Kern zu retten.

Durchweg alle staatlichen Leistungen wurden gesenkt. Die an ihr kostenloses Gesundheitswesen gewöhnten SchwedInnen wurden nun mit Beiträgen zu Medikamenten und einer Eigenbeteiligung bei Arztkosten zur Kasse gebeten. Eine Rentenreform senkte die staatlich garantierten Zahlungen ab und machte eine privat finanzierte Vorsorge erforderlich. Ein Rundumschlag, der auch deutlich in den Haushaltskassen der meisten Familien zu Buche schlug.

Dafür schaffte Schweden in Rekordzeit das Kunststück, sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf zu ziehen. Bereits 1999 stand Schweden wieder an der Spitze der OECD-Wachstumsliste.

Die Sanierung hat deutliche Spuren hinterlassen. Der schwedische Sozialstaat beschränkt sich jetzt auf die Befriedigung der Grundversorgung.

Die Vereinten Nationen bewerten in ihrer Rangliste der Länder, in welchen das Leben am lebenswertesten sei, neben dem Sozialsektor Werte wie Toleranz, demokratische Einflussmöglichkeiten, ein offenes Bildungswesen. Und sieht Schweden trotz eines deutlich gestutzten Sozialstaats auf einem klaren Spitzenplatz. Für eines dieser S-Worte reicht das den SchwedInnen allemal: Stolz.